Sie kam ihm, während er die Ausbildung verfolgte. Zufällig war eine kleine Zuschauerschaft anwesend. Arak erlaubte das gelegentlich, da er herausgefunden hatte, daß es für das Geschäft einträglich war. Diesmal war es ein Edelmann, der mit seiner Familie aus Solamnia angereist war. Der Edelmann hatte zwei bezaubernde Töchter, und seit sie die Arena betreten hatten, ließen sie die Augen nicht von Caramon.
»Warum haben wir ihn neulich abends nicht kämpfen sehen?« fragte eine ihren Vater.
Der Edelmann sah fragend den Zwerg an.
»Er ist neu«, antwortete Arak schroff. »Er ist noch in der Ausbildung, aber so gut wie fertig. In der Tat habe ich daran gedacht, ihn auftreten zu lassen – wann, sagtet Ihr, kommt Ihr zu den Spielen zurück?«
»Eigentlich nicht mehr«, begann der Edelmann, aber seine Töchter schrien bestürzt auf. »Nun«, fügte er hinzu, »vielleicht – wenn wir noch Karten bekommen.«
Die Mädchen klatschten in die Hände, ihre Augen kehrten zu Caramon zurück, der gerade mit Pheragas mit dem Schwert übte. Der gebräunte Körper des jungen Mannes glitzerte vor Schweiß, sein Haar klebte um sein Gesicht, er bewegte sich mit der Anmut eines gut durchtrainierten Athleten. Als der Zwerg den bewundernden Blick der Mädchen sah, fiel es ihm plötzlich auf, daß Caramon ein bemerkenswert gutaussehender junger Mann war.
»Er muß gewinnen«, sagte eines der Mädchen seufzend. »Ich könnte es nicht ertragen, ihn verlieren zu sehen!«
»Er wird gewinnen«, sagte das andere Mädchen. »Er ist zum Gewinnen geboren. Er sieht wie ein Sieger aus.«
»Natürlich! Das löst all meine Probleme!« sagte der Zwerg plötzlich. »Der Sieger! So werde ich ihn ankündigen! Niemals besiegt! Versteht nicht zu verlieren! Hat geschworen, sich das Leben zu nehmen, wenn ihn einer schlagen sollte!«
»O nein«, schrien beide Mädchen entsetzt. »Erzähl uns nicht so etwas.«
»Es ist die Wahrheit«, erklärte der Zwerg feierlich und rieb sich die Hände. »Sie kommen meilenweit angereist«, sagte er an jenem Abend zu Raag, »und hoffen, an dem Abend dabei zu sein, wenn er siegt. Er wird ein Herzensbrecher werden. Das kann ich jetzt schon sehen. Und ich habe auch das richtige Kostüm...«
Während seiner Ausbildung verlor Caramon niemals sein wahres Ziel aus dem Auge. Er hatte aus dem Tempel eine knappe Botschaft von Crysania erhalten, und so wußte er, daß es ihr gut ging. Aber von Raistlin erfuhr er nichts.
Zuerst gab Caramon die Hoffnung auf, seinen Bruder oder Fistandantilus zu finden, da es ihm nicht erlaubt war, die Arena zu verlassen. Aber ihm wurde schnell klar, daß Tolpan leicht Plätze und Straßen aufsuchen konnte. Die Leute hatten eine Neigung, Kender auf die gleiche Art zu behandeln wie Kinder – als ob sie nicht da wären. Und Tolpan war noch geschickter als die meisten Kender, sich im Schatten aufzulösen, sich hinter Vorhängen zu verbergen oder durch Korridore zu schleichen. Er konnte leicht den Tempel betreten.
Zusätzlich war es ein Vorteil, daß der Tempel so groß war und von so vielen Besuchern wimmelte, daß ein Kender mühelos übersehen wurde. Ein weiterer Vorteil war, daß es viele Kendersklaven gab, die in den Küchen arbeiteten, und sogar einige Kenderkleriker, die sich frei bewegen konnten.
Tolpan hätte liebend gern mit ihnen Freundschaft geschlossen und Fragen über seine Heimat gestellt. Aber er traute sich nicht. Caramon hatte ihn gebeten, nicht zu viel zu reden, und zum ersten Mal nahm Tolpan diese Bitte ernst. Da er es als nervenaufreibend empfand, sich ständig vorzusehen, nicht über Drachen oder andere Dinge zu reden, entschied er, daß es einfacher wäre, die Versuchung insgesamt zu meiden. Er begnügte sich also damit, im Tempel herumzuschnüffeln und Informationen zu sammeln.
»Ich habe Crysania gesehen«, berichtete er eines Abends Caramon, nachdem sie vom Essen gekommen waren. Tolpan lag auf seinem Bett, während Caramon mit Keule und Kette mitten im Zimmer trainierte. Arak wollte, daß er auch mit anderen Waffen außer dem Schwert umgehen konnte.
»Wie geht es ihr?« fragte Caramon.
Tolpan schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Sie sieht nicht krank aus. Aber sie sieht auch nicht glücklich aus. Ihr Gesicht ist blaß, und als ich versuchte, mit ihr zu reden, hat sie mich einfach stehen lassen. Ich glaube nicht, daß sie mich erkannt hat.«
Caramon runzelte die Stirn. »Sieh zu, daß du Näheres herausfindest«, sagte er. »Vergiß nicht, daß auch sie Raistlin sucht. Vielleicht hat es etwas mit ihm zu tun.«
»In Ordnung«, erwiderte der Kender, dann duckte er sich, als die Keule über seinen Kopf schwirrte. »Bitte, paß auf! Geh ein bißchen zurück.« Er tastete besorgt nach seinem Kopf, um zu fühlen, ob er noch da war.
»Was Raistlin betrifft«, fuhr Caramon mit gedämpfter Stimme fort, »vermutlich hast du heute nichts über ihn herausgefunden, oder?«
Tolpan schüttelte den Kopf. »Ich habe gefragt und gefragt. Fistandantilus hat Lehrlinge. Aber niemand hat einen gesehen, der Raistlins Beschreibung entspricht. Und weißt du, Leute mit goldener Haut und Stundenglasaugen treten schon in der Menge hervor. Aber ich werde bestimmt bald etwas herausfinden. Ich habe gehört, daß Fistandantilus zurück ist.«
»So?« Caramon hörte auf, die Keule zu schwingen, und wandte sich Tolpan zu.
»Ja. Ich habe ihn zwar nicht gesehen, aber einige Kleriker haben darüber geredet. Ich glaube, er ist letzte Nacht wieder aufgetaucht, in der Empfangshalle des Königspriesters. Einfach so. Da war er.«
»Ja«, knurrte Caramon. Er blieb so lange Zeit ruhig, daß Tolpan gähnte und gerade in Schlaf sinken wollte. Caramons Stimme brachte ihn wieder in den Wachzustand zurück.
»Tolpan«, sagte Caramon, »das ist unsere Gelegenheit.«
»Unsere Gelegenheit wozu?« Der Kender gähnte wieder.
»Unsere Gelegenheit, Fistandantilus umzubringen«, antwortete der Krieger gelassen.
7
Caramons eiskalte Bemerkung ließ den Kender zusammenzucken.
»Umbringen? Ich finde, du solltest darüber nachdenken, Caramon«, stammelte Tolpan. »Ich meine, dieser Fistandantilus ist ein wirklich begabter Zauberer und sogar noch besser als Raistlin und Par-Salian zusammen, wenn das stimmt, was sie sagen. Du kannst dich nicht einfach heranschleichen und so einen Burschen umbringen. Insbesondere, wenn du noch nie jemanden umgebracht hast!«
»Er muß schlafen, oder nicht?« fragte Caramon.
»Nun«, zögerte Tolpan. »Vermutlich. Jeder muß schlafen, glaube ich, sogar Zauberer...«
»Vor allem Zauberer«, unterbrach ihn Caramon kalt. »Du erinnerst dich doch, wie schwach Raistlin immer war, wenn er nicht geschlafen hatte. Und das trifft auf alle Zauberer zu, selbst die mächtigsten. Das ist ein Grund, warum sie die große Schlacht verloren haben. Sie mußten sich ausruhen. Und hör auf, dauernd ›wir‹ zu sagen. Ich werde es machen. Du brauchst nicht einmal mitzukommen. Finde nur heraus, wo sein Zimmer ist, welche Verteidigungsmaßnahmen er trifft und wann er schlafen geht. Dann übernehme ich die Angelegenheit.«
»Caramon«, begann Tolpan zögernd, »glaubst du wirklich, daß das richtig ist? Ich weiß, daß dieser Fistandantilus eine wirklich böse Person ist, und er trägt die schwarzen Roben, aber ist es richtig, ihn umzubringen? Ich meine, daß wir durch diese Tat genauso böse werden wie er, oder nicht?«
»Es ist mir egal«, erwiderte Caramon, und seine Augen glitten zu der Keule, die er langsam hin und her schwang. »Es geht um sein Leben oder um das Raistlins, Tolpan. Wenn ich Fistandantilus jetzt in der Vergangenheit töte, könnte ich Raistlin von diesem zerstörten Körper befreien, Tolpan, und ihn wieder ganz machen! Wenn ich ihn erst einmal von dem bösen Einfluß, den dieser Mann auf ihn ausübt, befreit habe – dann weiß ich, daß er wieder der alte Raistlin ist. Der kleine Bruder, den ich liebte.« Caramons Stimme wurde sehnsüchtig, seine Augen feucht. »Er könnte zu uns kommen und bei uns leben, Tolpan.«
»Was ist mit Tika?« fragte Tolpan. »Wie wird sie das finden, daß du jemanden umbringst?«