Caramons verwirrter Ausdruck verfinsterte sich zu einem Runzeln. »Ich bin mir nicht so sicher«, murmelte er, »aber ich glaube nicht, daß du...«
»Nun, ich bin hier.« Tolpan rollte sich von Caramons dickem Hauch und landete neben ihm auf den Pflastersteinen. »Wo auch ›hier‹ ist«, murmelte er. »Komm, ich helfe dir beim Aufstehen«, sagte er zu Caramon und streckte seine kleine Hand aus, in der Hoffnung, Caramon ablenken zu können. Tolpan wußte nicht, ob er zurückgeschickt werden konnte oder nicht, aber er hatte auch nicht die Absicht, es herauszufinden.
Caramon richtete sich mühsam auf. In jeder Hinsicht sah er wie eine umgekippte Schildkröte aus, dachte Tolpan kichernd. Und jetzt fiel ihm auf, daß sich Caramons Kleidung von der unterschied, die er im Turm getragen hatte. Er hatte seine Rüstung getragen – so viel davon noch paßte – und eine lose sitzende Tunika aus feinem Tuch, die Tika mit liebevoller Sorgfalt zusammengenäht hatte.
Aber nun war er mit einem groben, schlampig zusammengeflickten Tuch bekleidet. Eine unfeine Lederweste hing über seinen Schultern. An der Weste waren einst vielleicht Knöpfe gewesen, aber wenn dem so gewesen war, fehlten sie jetzt. Knöpfe wären sowieso sinnlos, dachte Tolpan, denn es bestand keine Möglichkeit, die Weste um Caramons herabhängenden Bauch zu schließen. Ausgebeulte lederne Kniebundhosen und geflickte Lederstiefel, die an einem Zeh ein riesiges Loch aufwiesen, vervollständigten das unangenehme Bild.
»Puh!« murmelte Caramon schnüffelnd. »Was ist das für ein entsetzlicher Gestank?«
»Du«, antwortete Tolpan, der sich mit einer Hand die Nase zuhielt und mit der anderen herumfuchtelte, als ob er so den Geruch vertreiben könnte. Caramon stank nach Zwergenspiritus! Der Kender betrachtete ihn scharf. Caramon war nüchtern gewesen, als sie aufgebrochen waren, und er wirkte auch jetzt nüchtern. Seine Augen waren klar, und er stand aufrecht, ohne zu taumeln.
Der große Mann schaute hinunter und sah zum ersten Mal seine Aufmachung. »Was? Wie?« fragte er verwirrt.
»Man könnte doch davon ausgehen«, sagte Tolpan streng und musterte voll Abscheu Caramons Kleidung, »daß die Magier sich etwas Besseres als dies hier leisten könnten!« Ein plötzlicher Gedanke stieg in ihm hoch. Ängstlich sah er auf seine eigenen Kleider, seufzte dann aber erleichtert auf. Ihm war nichts geschehen. Er hatte sogar seine Beutel bei sich, alles war völlig in Ordnung. Eine nagende Stimme in seinem Inneren erwähnte, daß dies wahrscheinlich daran lag, daß er nicht hätte mitkommen sollen, aber er ignorierte sie.
»Nun, sehen wir uns hier um«, schlug Tolpan fröhlich vor und ließ auf seine Worte Taten folgen. Er war bereits in der Lage gewesen, aufgrund des Geruchs Vermutungen anzustellen, wo sie sich befanden – in einer Gasse. Der Kender zog die Nase kraus. Er hatte angenommen, daß Caramon stank! Die Gasse, überfüllt mit Müll und Abfall jeglicher Art, war dunkel, überschattet von einem riesigen Gebäude. Aber Tolpan konnte erkennen, daß es hellichter Tag war, als er zum Ende der Gasse blickte, die offensichtlich in eine geschäftige Straße mündete; sie wimmelte von Leuten, die kamen und gingen.
»Ich glaube, das ist ein Markt«, sagte Tolpan und schickte sich an, zu weiteren Untersuchungen das Ende der Gasse aufzusuchen. »In welche Stadt, sagtest du, wollten sie uns schicken?«
»Istar«, hörte er Caramon hinter seinem Rücken murmeln. Dann: »Tolpan!«
Ein ängstlicher Ton in Caramons Stimme ließ den Kender sich eilig umdrehen, seine Hand griff unverzüglich zu dem kleinen Messer, das er in seinem Gürtel trug. Caramon kniete bei einer Person, die in der Gasse lag.
»Was ist denn?« rief Tolpan, während er zurücklief.
»Crysania«, antwortete Caramon und hob einen dunklen Umhang hoch.
»Caramon!« Tolpan holte entsetzt Atem. »Was haben sie mit ihr angestellt? Hat ihre Magie nicht funktioniert?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Caramon leise, »aber wir müssen Hilfe holen.« Sorgfältig bedeckte er das blutige Gesicht der Frau mit dem Umhang.
»Ich gehe«, bot sich Tolpan an, »und du bleibst bei ihr. Das scheint hier wirklich kein guter Stadtteil zu sein, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ja«, stimmte Caramon aufseufzend zu.
»Es wird alles gut werden«, versicherte Tolpan und tätschelte beruhigend die Schulter des großen Mannes. Dann drehte er sich um und eilte zur Straße.
»Hil...«, begann er dort, aber eine Hand schloß sich mit eisernem Griff um seinen Arm.
»Aber, aber«, ertönte eine strenge Stimme, »wohin willst du denn?«
Tolpan drehte sich um und erblickte einen bärtigen Mann, dessen Gesicht teilweise von dem glänzenden Visier eines Helms bedeckt war und der ihn mit dunklen kalten Augen anstarrte.
Stadtwache, erkannte der Kender sofort, der sehr viel Erfahrung mit dieser Art von offiziellen Persönlichkeiten hatte.
»Nun, ich war auf der Suche nach dir«, antwortete Tolpan und versuchte, sich freizuwinden und gleichzeitig einen unschuldigen Ausdruck anzunehmen.
»Das ist die typische Ausrede eines Kenders!« Der Hauptmann schnaufte verächtlich und verstärkte seinen Griff um Tolpan. »Wenn das stimmt, geht dieses Ereignis in die Geschichte Krynns ein, das steht fest.«
»Aber es stimmt«, entgegnete Tolpan und funkelte den Mann beleidigt an. »Ein Freund von uns ist verletzt.«
Er sah, wie der Hauptmann einem anderen Mann einen Blick zuwarf, den er vorher nicht bemerkt hatte – einem in weiße Roben gekleideten Kleriker.
Tolpan war froh. »Oh? Ein Kleriker? Wie...«
»Was meinst du, Denubis? Hier ist die Bettlergasse. Wahrscheinlich eine Messerstecherei, Diebe, die sich streiten.«
Der Kleriker war ein Mann mittleren Alters mit dünnen Haaren und einem ernsten Gesicht. Tolpan sah, wie er über den Marktplatz schaute und dann den Kopf schüttelte. »Wir sollten der Sache nachgehen.«
»Nun gut.« Der Hauptmann zuckte die Achseln. Er kommandierte zwei seiner Untergebenen ab und beobachtete, wie sie sich vorsichtig in die schmutzige Gasse bewegten. Er hielt die Hand über den Mund des Kenders, und Tolpan, der langsam erstickte, gab einen quietschenden Ton von sich.
Der Kleriker, der die Wachen unruhig beobachtet hatte, blickte sich um. »Laß ihn atmen, Hauptmann«, sagte er.
»Dann müssen wir seinem Geplapper zuhören«, murrte der Hauptmann ärgerlich, aber er nahm seine Hand von Tolpans Mund.
»Er wird ruhig sein, nicht wahr?« fragte der Kleriker und sah Tolpan mit Augen an, die irgendwie besorgt wirkten. »Ihm ist klar, wie wichtig es ist, nicht wahr?«
Nicht ganz sicher, ob der Kleriker ihn ansprach oder den Hauptmann oder beide, hielt es Tolpan für das Beste, einfach zustimmend zu nicken. Er sah Caramon aufstehen und auf das dunkle formlose Bündel zeigen, das neben ihm lag. Einer der Wachmänner kniete nieder und zog den Umhang beiseite.
»Hauptmann!« rief er, während der andere Wachmann sofort Caramon ergriff. Verblüfft und wütend über diese grobe Behandlung, riß sich der große Mann aus dem Griff des Wachmanns frei. Dieser schrie, und sein Gefährte erhob sich. Stahl blitzte auf.
»Verdammt!« fluchte der Hauptmann. »Hier, paß auf den kleinen Bastard auf, Denubis!« Er schob Tolpan in die Richtung des Klerikers.
»Soll ich nicht lieber gehen?« protestierte Denubis, während er Tolpan auffing, als der Kender auf ihn zustolperte.
»Nein!« Der Hauptmann lief bereits mit gezogenem Kurzschwert die Gasse hinunter. Tolpan hörte ihn etwas wie »großes Scheusal... gefährlich« murmeln.
»Caramon ist nicht gefährlich«, protestierte Tolpan und sah besorgt zu dem Kleriker auf, der Denubis genannt wurde. »Sie werden ihn doch nicht verletzen, oder? Was ist denn nicht in Ordnung?«
»Das werden wir schnell genug herausfinden«, sagte Denubis in strengem Ton. Er hielt Tolpan in einem sanften Griff fest, so daß der Kender sich mühelos hätte befreien können. Zuerst hatte Tolpan Flucht in Erwägung gezogen, aber er konnte seinen Freund nicht zurücklassen.