Ein Zeichen der Götter, dachte er; sein klopfendes Herz erstickte ihn fast. Er spürte Angst, eine Angst, die er in seinem Leben selten gespürt hatte. Ich muß es schnell erledigen! sagte er sich, besorgt, ohnmächtig zu werden oder sich übergeben zu müssen. Der weiche Teppich dämpfte seine Schritte. Jetzt konnte er das Bett sehen und die Gestalt, die darin schlief. Er schlich sich zum Bett, lauschte, den Dolch in der Hand, dem ruhigen Atem seines Opfers, versuchte eine Veränderung im gleichmäßigen Rhythmus auszumachen, die ihm sagen würde, daß er entdeckt worden war.
Ein und aus... ein und aus... der Atem ging stark, tief, friedlich. Der Atem eines gesunden jungen Mannes. Caramon erschauerte, erinnerte sich, wie alt der Zauberer sein mußte, erinnerte sich an die finsteren Geschichten, die er darüber gehört hatte, wie Fistandantilus seine Jugend erneuerte. Der Atem des Mannes ging regelmäßig, ohne Unterbrechungen. Das Mondlicht strömte herein, ein Zeichen...
Caramon hob den Dolch. Ein Stoß, schnell und sauber, tief in die Brust, und es war vorüber. Caramon zögerte. Nein, bevor er zustieß, wollte er das Gesicht sehen – das Gesicht des Mannes, der seinen Bruder so gequält hatte. Caramon hob wieder den Dolch, aber seine Hand zitterte. Er mußte das Gesicht sehen! Vorsichtig zog er die schwarze Kapuze beiseite.
Solinaris silbernes Licht ergoß sich über das Gesicht des schlafenden Magiers. Caramons Hand erstarrte, als er das Gesicht auf dem Kissen betrachtete.
Es war das Gesicht eines jungen Zauberkundigen, erschöpft von langen Nächten des Studiums, aber jetzt entspannt, willkommene Ruhe findend. Es war das Gesicht eines Mannes, in das ständiger Schmerz harte Linien eingegraben hatte. Es war ein Gesicht, das Caramon so vertraut wie sein eigenes war, ein Gesicht, auf das er unzählige Male im Schlaf geschaut hatte, ein Gesicht, das er mit erfrischendem Wasser gekühlt hatte...
Die den Dolch haltende Hand fuhr hinab, bohrte die Klinge in die Matratze. Caramon fiel neben dem Bett auf die Knie. Er wurde von Krämpfen geschüttelt und weinte.
Raistlin öffnete die Augen und richtete sich auf, blinzelte im hellen Licht Solinaris. Er zog sich wieder die Kapuze über die Augen, dann, vor Wut aufseufzend, streckte er eine Hand aus und nahm den Dolch aus dem kraftlosen Griff seines Bruders.
9
»Das war wirklich dumm, mein Bruder«, sagte Raistlin, während er den Dolch in seinen schlanken Händen umdrehte und ihn müßig betrachtete. »Es fällt mir schwer zu glauben, was ich sehe.«
Auf dem Boden neben dem Bett kniend, sah Caramon zu seinem Zwillingsbruder auf. Sein Gesicht war leichenblaß.
»›Ich verstehe nicht, Raist‹«, winselte Raistlin, Caramons Stimme nachahmend.
Caramons Gesicht verhärtete sich zu einer dunklen Maske. Seine Augen glitten zu dem Dolch, den sein Bruder noch in der Hand hielt. »Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn ich nicht die Kapuze zurückgezogen hätte«, murmelte er.
Raistlin lächelte. »Dir blieb keine andere Wahl«, erwiderte er. Dann seufzte er und schüttelte den Kopf. »Mein Bruder, glaubst du wirklich, daß du einfach in mein Zimmer schleichen und mich im Schlaf umbringen kannst? Du weißt doch, daß ich keinen festen Schlaf habe, und das war schon immer so.«
»Nein, nicht dich!« schrie Caramon, und hob den Blick. »Ich dachte...« Er konnte nicht weitersprechen.
Raistlin starrte ihn verwirrt an, dann lachte er plötzlich auf. Es war ein entsetzliches Gelächter, und Tolpan, der immer noch am Ende des Korridors hockte, schlug bei dem Geräusch seine Hände über die Ohren.
»Du wolltest Fistandantilus umbringen!« stellte Raistlin fest und musterte seinen Bruder amüsiert. Er lachte wieder über diesen Gedanken. »Teurer Bruder«, sagte er, »ich habe vergessen, wie unterhaltsam du sein kannst.«
Caramon errötete und erhob sich schwankend. »Ich wollte es... für dich machen«, erklärte er. Er ging zum Fenster, zog den Vorhang zur Seite und starrte niedergeschlagen auf den Hof des Tempels hinaus, der im Licht Solinaris perlmuttern und silbern schimmerte.
»Natürlich«, rief Raistlin; eine Spur der alten Bitterkeit schlich sich in seine Stimme. »Du tust doch sowieso alles nur für mich?« Er sprach einen scharfen Befehl aus, und ein helles Licht erfüllte den Raum, das vom Stab des Magius herrührte, der in einer Ecke lehnte. Der Magier warf die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Er ging zum Kamin, sprach einen weiteren Befehl, und Flammen hüpften von den nackten Steinen hoch. Ihr orangefarbenes Licht schlug gegen sein blasses schmales Gesicht und spiegelte sich in den klaren braunen Augen. »Nun, du bist zu spät gekommen, mein Bruder«, fuhr Raistlin fort und hielt seine Hände den warmen Flammen entgegen. »Fistandantilus ist tot. Durch meine Hände.«
Caramon drehte sich jäh um und starrte seinen Bruder an, überrascht vom seltsamen Ton in Raistlins Stimme. Aber sein Bruder blieb beim Feuer stehen und starrte in die Flammen.
»Du dachtest, du läufst in sein Zimmer und erstichst ihn im Schlaf«, murmelte Raistlin; ein grimmiges Lächeln lag auf seinen schmalen Lippen. »Den größten Magier, der je gelebt hat – bis jetzt.«
Caramon sah seinen Bruder am Kaminsims lehnen, als hätte er plötzlich einen Schwächeanfall bekommen.
»Er war überrascht, mich zu sehen«, erzählte Raistlin. »Und er machte sich über mich lustig, so wie er sich im Turm über mich lustig gemacht hat. Aber er hatte Angst. Ich konnte es an seinen Augen erkennen. ›So, kleiner Magier‹, höhnte Fistandantilus, ›wie bist du hierhergekommen? Hat der große Par-Salian dich geschickt?‹ – ›Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen‹, antwortete ich ihm. ›Ich bin jetzt der Herr des Turms.‹ Das hatte er nicht erwartet. ›Unmöglich‹, sagte er lachend. ›Ich bin derjenige, dessen Kommen prophezeit wurde. Ich bin der Herr über Vergangenheit und Gegenwart. Wenn ich bereit bin, werde ich in mein Eigentum zurückkehren.‹ Aber die Angst in seinen Augen wuchs, noch während er sprach, denn er las meine Gedanken. ›Ja‹, antwortete ich auf seine unausgesprochenen Worte, ›die Prophezeiung hat nicht so funktioniert, wie du es erhofft hast. Du hast beabsichtigt, von der Vergangenheit in die Gegenwart zu reisen, indem du die Lebenskraft verwendest, die du mir zur Erhaltung deines Lebens entzogen hat. Aber du hast vergessen, daß ich deine geistigen Kräfte anzapfen kann! Du mußtest mich am Leben erhalten, um meine Lebenssäfte aussaugen zu können. Und zu diesem Zweck hast du mir die Worte gegeben und mich gelehrt, die Kugel der Drachen zu benutzen. Als ich sterbend vor Astinus’ Füßen lag, hast du Leben in diesen erbärmlichen Körper geatmet, den du gequält hattest. Du brachtest mich zur Dunklen Königin und flehtest sie an, mir den Schlüssel zu geben, damit ich die Geheimnisse der uralten magischen Texte enthülle, die ich nicht lesen konnte. Und als du schließlich bereit warst, hast du beabsichtigt, in die zerstörte Hülle meines Körpers einzugehen und sie als deine zu beanspruchen.‹«
Raistlin wandte sich um, um seinem Bruder ins Gesicht zu sehen, und Caramon trat einen Schritt zurück, verängstigt über den Haß und die Wut, die er in diesen Augen brennen sah, heller als die tanzenden Flammen des Feuers.
»Er hatte also die Absicht, mich schwach und zerbrechlich zu halten. Aber ich habe ihn bekämpft!« fuhr Raistlin fort. »Ich benutzte ihn! Ich benutzte seinen Geist, ich lebte mit dem Schmerz, und schließlich habe ich ihn überwältigt! ›Du bist der Herr über die Vergangenheit‹, sagte ich zu ihm, ›aber dir fehlt die Kraft, in die Gegenwart zu gelangen. Ich bin der Herr der Gegenwart, und bald bin ich auch der Herr der Vergangenheit!‹« Er seufzte. »Ich habe ihn getötet«, murmelte er, »aber es war ein bitterer Kampf.«
»Du hast ihn getötet? Sie... sie sagten, du wolltest zurückkommen, um von ihm zu lernen«, stammelte Caramon.