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Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet. Sie hatte eher das Aussehen eines jungen Mädchens, das von seinem Liebhaber getäuscht wurde. »Nun, natürlich, meine Liebe«, antwortete Denubis in einer gewissen Verwirrung.

»Wirklich?« Sie hob den Blick und sah ihm aufmerksam in die Augen. »Du arbeitest jetzt schon so lange für die Kirche. Du kennst noch die alten Zeiten. Du hast die Veränderung erlebt. Ist es besser geworden?«

Denubis spürte den forschenden Blick Crysanias, der all die dunklen Ecken, in denen er seit Jahren bewußt Dinge verborgen hielt, beleuchtete. Er fühlte sich an Fistandantilus erinnert. »Ich... nun... natürlich... es ist nur...« Er stammelte, und errötend verstummte er, als er es bemerkte. Crysania nickte ernst, als hätte sie diese Antwort erwartet.

»Nein, es ist besser geworden«, sagte er standhaft. Er wollte ihren jungen Glauben nicht verletzen, ergriff ihre Hand und lehnte sich vor. »Ich bin ein alter Mann, meine Liebe. Und alte Männer mögen Veränderungen nicht. Das ist alles. Für uns war in den alten Zeiten alles besser.« Er kicherte. »Selbst das Wasser hat besser geschmeckt. Ich kann mich nicht an die modernen Methoden gewöhnen. Es ist schwer für mich, sie zu verstehen. Die Kirche unternimmt allerhand Gutes, meine Liebe. Sie bringt Ordnung in das Land und gibt der Gesellschaft einen festen Halt...«

»Ob die Gesellschaft will oder nicht«, murmelte Crysania, aber Denubis überhörte es.

»Und sie rottet das Böse aus«, fuhr er fort. Plötzlich fiel ihm wieder die Geschichte des Ritters Soth ein.

»Ist das der Fall?« fragte ihn Crysania. »Rottet sie das Böse aus? Oder sind wir nicht wie Kinder, die in der Nacht allein gelassen werden und eine Kerze nach der anderen anzünden, um die Dunkelheit fernzuhalten? Wir erkennen nicht, daß die Dunkelheit einen Zweck erfüllt, und in unserer Angst brennen wir schließlich das Haus nieder!«

Denubis blinzelte. Er verstand überhaupt nichts mehr.

Aber Crysania sprach weiter. Es war offensichtlich, stellte Denubis unbehaglich fest, daß sie diese Gedanken seit Wochen in ihrem Inneren eingeschlossen hatte.

»Wir versuchen nicht, jenen zu helfen, die ihren Weg verloren haben. Wir kehren ihnen den Rücken zu, bezeichnen sie als unwürdig oder entledigen uns ihrer. Weißt du, daß Quarat beschlossen hat, die Ogerrasse auf der ganzen Welt auszurotten?«

»Aber, meine Liebe, Oger sind immerhin ein mörderisches Pack...«, wagte Denubis einzuwenden.

»Von den Göttern erschaffen, so wie wir auch«, unterbrach ihn Crysania. »Haben wir das Recht, etwas zu vernichten, was die Götter erschaffen haben?«

»Auch Spinnen?« warf Denubis ein, ohne nachzudenken. Als er ihren verärgerten Ausdruck sah, lächelte er. »Mach dir nichts daraus. Das Geschwafel eines alten Mannes.«

»Ich bin mit der Überzeugung hierhergekommen, daß die Kirche gut und wahr ist, und jetzt...« Sie legte den Kopf in die Hände.

Denubis streckte die Hand aus und streichelte Crysanias glattes, blauschwarzes Haar; er tröstete sie, wie er die Tochter getröstet hätte, die er niemals hatte. »Schäm dich nicht deiner Fragen, Kind«, sagte er. »Geh, sprich mit dem Königspriester. Er wird deine Fragen und Zweifel beantworten. Er verfügt über mehr Weisheit als ich.«

Crysania sah hoffnungsvoll auf. »Glaubst du...«

»Gewiß.« Denubis lächelte. »Geh heute abend zu ihm, meine Liebe. Er hält Audienz. Sei nicht ängstlich. Solche Fragen verärgern ihn nicht.«

»Sehr gut«, sagte Crysania. Ihr Gesicht war von Entschlossenheit erfüllt. »Du hast recht. Es war dumm von mir, mich damit ohne Hilfe abzuquälen. Ich werde den Königspriester fragen. Sicherlich kann er diese Dunkelheit aufhellen.«

Denubis lächelte und erhob sich, als Crysania vom Stuhl aufstand. Sie küßte ihn leicht auf die Wange. »Ich danke dir, mein Freund«, sagte sie leise. »Ich lasse dich jetzt wieder arbeiten.«

Denubis verspürte plötzlich eine unerklärliche Trauer und dann eine sehr große Angst. Es war, als ob er sich an einem Ort strahlender Helligkeit befände und zusähe, wie sie in eine unermeßliche, entsetzliche Dunkelheit ging. Das Licht um ihn wurde heller und heller, während die Dunkelheit um sie immer entsetzlicher, immer dichter wurde.

Verwirrt legte Denubis eine Hand an die Augen. Das Licht war wirklich da! Es strahlte im Zimmer und tauchte ihn in seinen Glanz. Es durchdrang sein Gehirn, der Schmerz in seinem Kopf wurde unerträglich. Und dennoch dachte er verzweifelt, daß er Crysania warnen müsse...

Das Licht verschlang ihn, erfüllte seine Seele. Und dann plötzlich war es verschwunden. Er stand wieder in dem sonnendurchfluteten Raum. Aber er war nicht allein. Blinzelnd versuchte er, seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, sah sich um und erblickte einen Elf, der bei ihm im Zimmer stand und ihn kühl musterte. Der Elf war alt und kahlköpfig und hatte einen langen weißen Bart. Er war in lange weiße Roben gekleidet, das Medaillon von Paladin hing um seinen Hals. Der Elf blickte traurig, so traurig, daß Denubis zu Tränen gerührt war, obgleich ihm der Grund unklar war.

»Es tut mir leid«, sagte Denubis mit heiserer Stimme. Er legte die Hand an den Kopf und erkannte plötzlich, daß er keine Schmerzen mehr hatte. »Ich... ich hatte dich nicht eintreten sehen. Kann ich etwas für dich tun? Suchst du jemanden?«

»Nein, ich habe den gefunden, nach dem ich gesucht habe«, antwortete der Elf ruhig, aber immer noch mit dem gleichen traurigen Gesichtsausdruck, »wenn du Denubis bist.«

»Ich bin Denubis«, erwiderte der Kleriker verwirrt. »Aber verzeih mir, ich kann mich nicht erinnern...«

»Mein Name ist Loralon«, erwiderte der Elf.

Denubis keuchte. Der größte aller Elfenkleriker, Loralon, hatte vor Jahren Quarats Aufstieg zur Macht bekämpft. Aber Quarat war zu stark gewesen. Mächtige Kräfte unterstützten ihn. Loralons Worte über Versöhnung und Frieden wurden nicht geschätzt. Voll Kummer war der alte Kleriker zu seinem Volk in dem sagenumwobenen Land Silvanesti zurückgekehrt und hatte geschworen, sich niemals wieder in Istar sehen zu lassen.

Was machte er hier?

»Du suchst sicherlich den Königspriester«, stammelte Denubis. »Ich werde...«

»Nein, es gibt im Tempel nur einen, den ich suche, und das bist du, Denubis«, sagte Loralon. »Komm. Wir haben eine lange Reise vor uns.«

»Reise?« wiederholte Denubis. »Das ist unmöglich. Ich habe Istar nicht mehr verlassen, seitdem ich vor dreißig Jahren gekommen bin...«

»Komm mit, Denubis«, sagte Loralon sanft.

»Wohin? Ich verstehe nicht...«, schrie Denubis. Er sah Loralon inmitten des sonnendurchfluteten friedlichen Zimmers stehen, ihn musternd, immer noch mit dem gleichen Ausdruck tiefer, unaussprechlicher Traurigkeit. Loralon griff zu dem Medaillon, das er um den Hals trug, und berührte es.

Und dann wußte Denubis alles. Paladin vermittelte seinem Kleriker Einsichten. Er sah die Zukunft. Vor Entsetzen erblassend, schüttelte er den Kopf. »Nein«, flüsterte er. »Das ist zu fürchterlich.«

»Es ist noch nicht alles entschieden. Diese Reise ist vielleicht nur eine vorübergehende, oder sie kann eine Zeit dauern, die jenseits aller Vorstellung liegt. Komm, Denubis, hier wirst du nicht länger benötigt.« Der große Elfenkleriker steckte die Hand aus.

Denubis fühlte sich mit Frieden und Verstehen gesegnet, was er selbst in der Gegenwart des Königspriesters niemals erlebt hatte. Er neigte den Kopf und ergriff Loralons Hand. Aber als er es tat, konnte er seine Tränen nicht zurückhalten...

Crysania saß in einer Ecke der prächtigen Empfangshalle des Königspriesters, ihre Hände lagen ruhig gefaltet in ihrem Schoß, ihr Gesicht war blaß, aber gelassen. Der melodischen Stimme des Königspriesters lauschend, der mit seinen Ministern wichtige Staatsangelegenheiten besprach und dann von der Politik zur Lösung großer Geheimnisse des Universums wechselte, errötete Crysania bei dem Gedanken, mit ihren kleinlichen Fragen an ihn heranzutreten.

Worte von Elistan fielen ihr ein. »Gehe nicht zu anderen, um Antworten zu erhalten. Schau in dein Herz! Du wirst entweder darin die Antwort finden oder allmählich erkennen, daß die Antwort bei den Göttern liegt und nicht im Menschen.«