Und so saß Crysania da, mit ihren Gedanken beschäftigt und ihr Herz befragend. Unglücklicherweise entzog sich ihr der Friede, den sie suchte. Vielleicht gab es keine Antworten auf ihre Fragen, entschied sie. Dann spürte sie eine Hand an ihrem Arm. Erschreckt sah sie auf.
»Es gibt Antworten auf deine Fragen, Verehrte Tochter«, ertönte eine Stimme, die ein prickelndes Gefühl durch ihre Nerven jagte, »aber du weigerst dich, sie zu hören.«
Sie kannte die Stimme, aber als sie begierig in den Schatten der Kapuze sah, konnte sie das Gesicht nicht erkennen. Ihr Blick wanderte zu der Hand an ihrer Schulter, sie dachte, diese Hand zu kennen. Schwarze Roben fielen über sie, und ihr Herz machte einen Ruck. Aber an den Roben waren keine silbernen Runen, so wie er sie trug. Wieder starrte sie in das Gesicht. Sie konnte nur das Glitzern verborgener Augen und blasse Haut erkennen... Dann löste sich die Hand von ihrer Schulter, griff nach oben und zog die Kapuze zurück.
Zuerst verspürte Crysania bittere Enttäuschung. Die Augen des jungen Mannes waren nicht golden, nicht wie Stundengläser geformt, die sein Symbol gewesen waren. Die Haut war nicht golden gefärbt, das Gesicht nicht zerbrechlich und kränklich. Das Gesicht des Mannes war blaß, wie von unermüdlichem Studieren, aber es war gesund, sogar gutaussehend, wenn man den Ausdruck ständigen bitteren Zynismusses außer Acht ließ, den er trug. Die Augen waren braun, klar und kalt wie Glas, spiegelten alles, was sie sahen, enthüllten nichts. Der Körper des Mannes war schlank, aber muskulös. Die schwarzen unverzierten Roben, die er trug, zeigten starke Schultern, nicht die gebeugte Gestalt des Magiers. Und dann lächelte der Mann, seine dünnen Lippen teilten sich leicht.
»Du bist es!« keuchte Crysania und wollte sich aus ihrem Stuhl erheben.
Der Mann legte wieder seine Hand auf ihre Schulter, mit einem sanften Druck, der sie zurückzwang. »Bitte, bleib sitzen, Verehrte Tochter«, sagte er. »Ich werde mich zu dir setzen. Es ist ruhig hier, und wir können uns, ohne gestört zu werden, unterhalten.« Er drehte sich um, machte eine anmutige Handbewegung, und ein Stuhl, der am anderen Ende der Halle gestanden hatte, stand plötzlich neben ihm.
Crysania schrie leicht auf und sah sich im Saal um. Aber falls es jemand bemerkt hatte, war er eifrig bemüht, den Magier zu übersehen. Sie bemerkte, daß Raistlin sie amüsiert musterte, und sie spürte, wie ihre Haut warm wurde. »Raistlin«, sagte sie förmlich, um ihre Verwirrung zu verdecken, »ich freue mich, dich zu sehen.«
»Und ich freue mich, dich zu sehen, Verehrte Tochter«, antwortete er mit jener höhnischen Stimme, die an ihren Nerven zerrte. »Aber mein Name ist nicht Raistlin.«
Sie starrte ihn an und errötete noch stärker. »Verzeih mir«, sagte sie und sah aufmerksam sein Gesicht an, »aber du erinnerst mich stark an eine Person, die ich kenne – einst gekannt habe.«
»Vielleicht wird dies das Geheimnis aufklären«, sagte er leise. »Mein Name lautet hier Fistandantilus.«
Crysania erbebte, die Lichter im Raum schienen sich zu verdunkeln. »Nein«, sagte sie und schüttelte leicht den Kopf, »das kann nicht sein! Du bist doch zurückgekommen... um von ihm zu lernen!«
»Ich bin zurückgekommen, um er zu werden«, erwiderte Raistlin.
»Aber... ich habe Geschichten gehört. Er ist böse, niederträchtig...« Ihr Blick war entsetzt auf ihn gerichtet.
»Das Böse existiert nicht mehr«, entgegnete Raistlin. »Er ist tot.«
»Du?« Das Wort war nur ein Flüstern.
»Er hätte mich sonst getötet, Crysania«, erklärte Raistlin schlicht, »so wie er zahllose andere getötet hat. Es ging um mein oder sein Leben.«
»Wir haben nur ein Böses gegen ein anderes ausgetauscht«, antwortete Crysania traurig. Sie wandte sich um.
Ich verliere sie! erkannte Raistlin sofort. Schweigend betrachtete er sie. Sie hatte sich auf ihrem Stuhl von ihm abgewandt. Er konnte ihr Profil sehen, rein wie Solinaris Licht. Kühl musterte er sie, so wie er die kleinen Tiere gemustert hatte, die unter sein Messer kamen, als er nach den Geheimnissen des Lebens geforscht hatte.
Raistlin erinnerte sich, wie sie bei seiner Berührung zusammengezuckt war. Er beugte sich zu ihr vor und ergriff ihr Handgelenk. Sie schreckte auf und versuchte sich aus seinem Griff zu lösen. Aber der war fest.
»Glaubst du das wirklich von mir?« fragte Raistlin mit der Stimme eines Mannes, der lange gelitten hat und dann herausfindet, daß alles vergeblich war. Sie versuchte zu sprechen, aber Raistlin fuhr fort: »Fistandantilus plante, in unsere Zeit zurückzukehren, mich zu zerstören, meinen Körper zu nehmen und das zu beanspruchen, was die Königin der Finsternis zurückgelassen hatte. Er plante, die bösen Drachen unter seine Kontrolle zu bringen. Die Drachenfürsten, wie meine Schwester Kitiara, hätten sich unter seiner Fahne versammelt. Die Welt wäre wieder in Krieg gestürzt worden.« Raistlin hielt inne. »Diese Gefahr ist jetzt gebannt«, fügte er sanft hinzu.
Seine Augen hielten Crysania fest, so wie seine Hand ihr Gelenk festhielt. Als sie in sie hineinsah, erblickte sie sich selbst in den spiegelgleichen Pupillen, nicht als blasse, eifrige, strenge Klerikerin, wie sie sich mehr als einmal hatte nennen hören, sondern als schöne und liebenswürdige Frau. Dieser Mann war im Vertrauen zu ihr gekommen, und sie hatte ihn im Stich gelassen. Der Schmerz in seiner Stimme war unerträglich, und Crysania versuchte wieder zu sprechen.
Aber Raistlin zog sie noch näher an sich.
»Du kennst meine Ambitionen«, sagte er. »Dir habe ich mein Herz geöffnet. Ist es mein Plan, den Krieg wieder zu entfachen? Ist es mein Plan, die Welt zu erobern? Meine Schwester Kitiara kam zu mir und bat mich darum, suchte meine Hilfe. Ich weigerte mich, und ich fürchte, du hast die Folgen tragen müssen.« Raistlin seufzte und senkte die Augen. »Ich habe ihr von dir erzählt, Crysania, von deiner Güte und deiner Kraft. Sie war zornig und schickte dir ihren toten Ritter, um dich zu vernichten, überzeugt, sie könnte auf diese Weise deinen Einfluß auf mich zunichte machen.«
»Habe ich denn Einfluß auf dich?« fragte Crysania leise; sie versuchte nicht mehr, sich Raistlins Griff zu entziehen. Ihre Stimme zitterte vor Freude. »Darf ich zu hoffen wagen, daß du die Wege der Kirche erkannt hast und...«
»Die Wege dieser Kirche?« fragte Raistlin, und seine Stimme klang wieder bitter, höhnisch. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, richtete seine schwarzen Roben und musterte Crysania mit einem spöttischen Lächeln.
Verlegenheit, Zorn und Schuldgefühl färbten Crysanias Wangen rosarot, ihre grauen Augen verdunkelten sich zu einem Tiefblau. Die Farbe ihrer Wangen breitete sich auf ihre Lippen aus, und plötzlich war sie wunderschön, eine Tatsache, die Raistlin, ohne es zu wollen, auffiel. Der Gedanke ärgerte ihn über alle Maßen, denn er drohte seine Konzentration zu stören. Wütend schob er ihn beiseite.
»Ich kenne deine Zweifel, Crysania«, fuhr er plötzlich fort. »Ich weiß, was du gesehen hast. Du hast herausgefunden, daß die Kirche eher damit beschäftigt ist, die Welt in Gang zu halten als die Wege der Götter zu lehren. Du hast gesehen, daß ihre Kleriker betrügen, sich in Politik einmischen, Geld verschwenden, mit dem man die Armen ernähren könnte. Du dachtest daran, die Kirche in Schutz zu nehmen, als du hierher gekommen bist. Du versuchtest... vielleicht Zauberkundigen die Schuld zu geben.«
Crysanias Röte vertiefte sich, sie konnte ihn nicht ansehen und wandte das Gesicht ab, aber ihr Schmerz und ihre Erniedrigung waren offenkundig.
Raistlin fuhr gnadenlos fort: »Die Zeit der Umwälzung naht. Die wahren Kleriker haben bereits das Land verlassen... Wußtest du das nicht? Dein Freund Denubis ist auch verschwunden.
Du, Crysania, bist die einzig wahre Klerikerin hier im ganzen Land.«
Crysania starrte Raistlin schockiert an. »Das... ist unmöglich«, flüsterte sie. Ihre Augen wanderten durch die Halle. Und sie konnte zum ersten Mal die Gespräche der kleinen Gruppen hören, die sich weit weg vom Königspriester versammelt hatten. Sie hörte Gespräche über die Spiele, Streitereien über die Verteilung öffentlicher Gelder, Erörterungen der besten Methoden, ein aufrührerisches Land unter Kontrolle zu bringen – alles im Namen der Kirche.