Und dann, wie um die anderen, groben Stimmen zu übertönen, erklang die melodische Stimme des Königspriesters in ihrer Seele und beruhigte ihren verwirrten Geist. Der Königspriester war noch da. Sich von der Dunkelheit abwendend, sah sie zu seinem Licht hin und spürte ihren Glauben in ihrem Inneren stark und rein aufsteigen. Kühl sah sie wieder Raistlin an. »Es gibt immer noch Gutes auf der Welt«, sagte sie streng. Sie erhob sich und machte sich zum Gehen bereit. »Solange dieser heilige Mann herrscht, der von den Göttern gesegnet ist, kann ich nicht glauben, daß sie ihren Zorn an der Kirche auslassen.«
»Sieh dir diesen Mann an«, flüsterte Raistlin,»›gesegnet‹ von den Göttern.« Er ergriff Crysania mit seinen starken Armen und zwang sie, den Königspriester anzusehen.
Überwältigt von Schuldgefühlen, weil sie Zweifel gehegt hatte, und wütend auf sich, weil sie Raistlin erlaubt hatte, in ihr Inneres zu schauen, versuchte Crysania zornig, sich ihm zu entwinden, aber er hielt sie fest, seine Finger brannten auf ihrer Haut.
»Sieh!« wiederholte er. Er schüttelte sie leicht und brachte sie dazu, den Kopf zu heben, so daß sie in das Licht und den Glanz sehen konnte, von denen der Königspriester umgeben war.
Raistlin spürte, wie der Körper, den er hielt, zu beben begann, und er lächelte zufrieden. Sein mit der schwarzen Kapuze bedeckter Kopf näherte sich ihr, und er flüsterte ihr ins Ohr: »Was siehst du, Verehrte Tochter?«
Die einzige Antwort, die er erhielt, war ein Aufstöhnen.
Raistlins Lächeln vertiefte sich. »Sag es mir«, beharrte er.
»Einen Mann«, stammelte Crysania; ihr entsetzter Blick ruhte auf dem Königspriester. »Einen menschlichen Mann. Er sieht erschöpft aus und... verängstigt. Seine Haut ist grau, als ob er seit Tagen nicht mehr schliefe. Seine blauen Augen bewegen sich blitzschnell und voll Angst in alle Richtungen...« Plötzlich wurde ihr klar, was sie gesagt hatte. Sich der Nähe Raistlins bewußt, der Wärme des starken, muskulösen Körpers unter seinen weichen schwarzen Roben, befreite sich Crysania aus seinem Griff. »Welchen Zauber hast du auf mich geworfen?« herrschte sie ihn an.
»Keinen, Verehrte Tochter«, antwortete Raistlin ruhig. »Ich habe den Zauber gebrochen, den er in seiner Angst um sich gewoben hat. Es ist diese Angst, die sein Verderben herbeiführen und die Zerstörung dieser Welt verursachen wird.«
Crysania starrte Raistlin verstört an. Sie wünschte sich, daß er lüge. Aber dann erkannte sie, daß es bedeutungslos war. Sie konnte sich nicht länger selbst anlügen.
Verwirrt wandte sich Crysania ab und lief, von Tränen halbblind, aus der Empfangshalle.
Raistlin beobachtete sie, verspürte aber keine Befriedigung über seinen Sieg. Schließlich hatte er nichts anderes erwartet. Er setzte sich wieder ans Feuer, wählte eine Orange aus einer Fruchtschale aus, die auf einem Tisch stand, und schälte sie gelassen, während er nachdenklich in die Flammen starrte.
Noch eine andere Person hatte Crysanias Flucht aus der Empfangshalle verfolgt. Nun beobachtete sie Raistlin beim Essen der Orange.
Mit blassem Gesicht, dessen Ausdruck zwischen Wut und Angst wechselte, verließ Quarat die Empfangshalle und kehrte in sein Zimmer zurück, in dem er bis zum Morgengrauen aufund abschritt.
11
Sie sollte als die Nacht der Botschaft in die Geschichte eingehen, jene Nacht, in der die wahren Kleriker Krynn verließen. Wohin sie gingen und welches Schicksal ihnen widerfuhr, geht nicht einmal aus den Aufzeichnungen von Astinus hervor. Einige sagen, daß sie in den düsteren Tagen des Krieges der Lanze dreihundert Jahre später gesehen wurden. Viele Elfen schwören bei allem, was ihnen teuer ist, daß Loralon, der größte und frömmste Elfenkleriker, durch das verwüstete Land Silvanesti ging, seinen Untergang betrauerte und die Bemühungen jener segnete, die sich aufopferten, um es wieder aufzubauen.
Aber für die meisten auf Krynn ereignete sich das Verschwinden der wahren Kleriker unbemerkt. Jene Nacht erwies sich jedoch in vielerlei Hinsicht für andere als eine Nacht der Botschaft.
Crysania flüchtete in Verwirrung und Angst aus der Empfangshalle des Königspriesters. Ihre Verwirrung war einfach zu erklären. Sie hatte das großartigste aller Wesen, den Königspriester, den Mann, den Kleriker noch in ihrer Zeit verehrten, als einen Menschen gesehen, der Angst vor seinem eigenen Schatten hatte, sich hinter Zaubersprüchen verbarg und andere für sich herrschen ließ. All ihre Zweifel und bösen Ahnungen, die sie über die Kirche und ihren Zweck auf Krynn entwickelt hatte, kehrten zurück.
Was ihr aber Angst einjagte, das konnte oder wollte sie sich nicht eingestehen.
Als sie die Halle verließ, stolperte sie zuerst blind umher, ohne eine klare Vorstellung zu haben, wohin sie ging oder was sie tat. Dann suchte sie in einer Nische Zuflucht, trocknete ihre Tränen und riß sich zusammen. Beschämt über den Verlust ihrer Beherrschung, wußte sie nun, was sie zu tun hatte.
Sie mußte Denubis finden. Dann konnte sie beweisen, daß Raistlin sich geirrt hatte.
Sie lief durch die leeren Korridore, die nur von Solinaris schwindendem Licht erhellt waren, auf Denubis’ Kammer zu. Diese Geschichte mit den verschwundenen Klerikern konnte nicht wahr sein. Crysania hatte in der Tat niemals an diese alten Legenden über die Nacht der Botschaft geglaubt, sondern sie als Kindermärchen abgetan. Jetzt weigerte sie sich immer noch, daran zu glauben. Raistlin irrte sich.
Mit dem Weg vertraut, eilte sie weiter, ohne stehen zu bleiben. Sie hatte Denubis schon mehrere Male in seinem Zimmer besucht, um über Theologie oder Geschichte zu sprechen oder Geschichten über seine Heimat zu lauschen. Sie klopfte an der Tür.
Es kam keine Antwort.
Er schläft, sagte sich Crysania. Natürlich, es ist schon nach Nachtwacht. Ich werde morgen früh wiederkommen.
Aber sie klopfte erneut und rief sogar seinen Namen.
Immer noch keine Antwort.
Ich komme wieder. Außerdem habe ich ihn ja erst vor einigen Stunden gesehen, sagte sie sich, aber sie fand ihre Hand am Türgriff wieder, ihn leise umdrehend. »Denubis?« flüsterte sie.
Entschlossen öffnete sie die Tür. Die Fackeln im Korridor warfen ihr Licht in das kleine Zimmer. Es war genauso, wie er es verlassen hatte – sauber, ordentlich und leer.
Nun, nicht ganz leer. Die Bücher des Mannes, seine Federkiele, sogar seine Kleidungsstücke waren noch da, als ob er nur auf wenige Minuten mit der Absicht hinausgegangen sei, sofort zurückzukehren.
Die Lichter im Korridor verschwammen vor Crysanias Augen. Ihre Beine fühlten sich schwach an, und sie lehnte sich gegen die Tür. Dann zwang sie sich wieder zur Ruhe, versuchte, vernünftig zu denken. Standhaft schloß sie die Tür, und noch standhafter ging sie zu ihrem eigenen Zimmer.
Nun gut, die Nacht der Botschaft war eingetreten. Die wahren Kleriker waren verschwunden. Es war kurz vor dem Heiligen Abend. Dreizehn Tage nach dem Heiligen Abend würde die Umwälzung erfolgen. Bei diesem Gedanken blieb sie stehen. Sich schwach fühlend, trat sie an ein Fenster und starrte in einen Garten hinaus, der in weißes Mondlicht getaucht war. Das war also das Ende ihrer Pläne, ihrer Träume, ihrer Ziele. Sie war gezwungen, in ihre eigene Zeit zurückzukehren und lediglich von ihrem Versagen zu berichten. Sie hatte die Korruption der Kirche erlebt, und der Königspriester trug offensichtlich die Schuld an der entsetzlichen Verwüstung der Welt. Sogar bei ihrem ursprünglichen Plan hatte sie versagt, nämlich Raistlin aus der Dunkelheit zu reißen. Er würde ihr niemals zuhören. Gerade jetzt würde er wahrscheinlich über sie lachen – mit diesem entsetzlichen höhnischen Lachen...
»Verehrte Tochter?« ertönte eine Stimme.
Hastig ihre Tränen abwischend, drehte sich Crysania um. »Wer ist da?« fragte sie. Sie starrte in die Dunkelheit und hielt den Atem an, als eine dunkle, in Roben gehüllte Gestalt aus dem Schatten auftauchte.