»Ich war auf dem Weg zu meinen Räumen, als ich dich hier stehen sah«, fuhr die Stimme fort, und in ihr lag kein Lachen und kein Hohn. Sie klang kalt, und zugleich lag eine Wärme in ihr, die Crysania erbeben ließ.
»Du bist hoffentlich nicht krank«, sagte Raistlin und trat zu ihr. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, das im Schatten seiner dunklen Kapuze verborgen war. Aber sie konnte seine Augen sehen, glitzernd, klar und kalt im Mondlicht.
»Nein«, murmelte Crysania verwirrt und wandte ihr Gesicht ab, inbrünstig hoffend, daß alle Tränenspuren verschwunden seien. Aber es half ihr wenig. Müdigkeit, Anspannung und ihr eigenes Versagen überwältigten sie. Tränen flossen wieder über ihre Wangen. »Bitte geh weg«, sagte sie, hielt die Augen geschlossen und schluckte die Tränen wie bittere Medizin hinunter.
Sie fühlte sich von Wärme umgeben, und die weichen schwarzen Samtroben streiften ihren nackten Arm. Sie roch den süßen Duft von Verfall – vielleicht von Fledermausflügeln, vom Schädel eines Tieres —, jene geheimnisvollen Mittel, die Magier bei ihrem Zauber verwendeten. Dann spürte sie eine Hand ihre Wange berühren, schlanke Finger, zärtlich, stark und von jener seltsamen Wärme glühend.
Sie hielt die Augen geschlossen. Aber sie konnte Raistlins schlanken Körper fühlen, hart unter den weichen Roben, der sich gegen ihren drückte. Sie konnte diese Wärme spüren...
Crysania hatte plötzlich das Verlangen, daß seine Dunkelheit sie einhülle und tröste. Sie hatte das Verlangen, daß diese Wärme das kalte Innere in ihr wegbrenne. Begierig hob sie die Arme und streckte die Hände aus. Aber er war verschwunden. Sie konnte das Rascheln seiner Roben im stummen Korridor vernehmen.
Crysania öffnete die Augen. Dann weinte sie wieder, aber dieses Mal waren es Tränen der Freude. »Paladin«, flüsterte sie, »ich danke dir. Mein Weg ist klar. Ich werde nicht versagen!«
Raistlin schritt durch die Tempelhallen. Jeder, der ihn traf, schrak vor dem Zorn zurück, der sich auf seinem Gesicht ausdrückte. Er betrat schließlich den verlassenen Korridor, schlug die Tür zu seinem Zimmer mit solcher Wucht zu, daß sie fast zersplitterte, und ließ mit einem Blick Flammen im Kamin auflodern. Er schritt auf und ab und schleuderte sich Flüche zu, bis er zum Herumgehen zu müde war. Er sank auf einen Stuhl und starrte mit fiebrigen Augen ins Feuer.
»Dummkopf!« wiederholte er. »Das hätte ich voraussehen müssen!« Seine Hand ballte sich zusammen. »Ich hätte es wissen müssen. Dieser Körper, bei all seiner Kraft, ist schwach. Egal, wie intelligent, diszipliniert der Geist ist, wie kontrolliert die Gefühle, das wartet im Schatten wie ein riesiges Biest, bereit, anzuspringen und die Macht zu ergreifen.« Er fauchte vor Zorn und trieb seine Nägel in seine Handfläche, bis sie blutete. »Ich sehe sie immer noch! Ich sehe ihre Elfenbeinhaut, ihre weichen Lippen! Ich rieche ihr Haar und spüre die weichen Wölbungen ihres Körpers dicht an meinem... Aber nein! Das darf nicht sein. Oder vielleicht... Was ist, wenn ich sie verführe? Würde sie dann nicht noch stärker in meine Gewalt geraten?« Der Gedanke war mehr als reizvoll, ließ den jungen Mann in einem Sturm der Sehnsucht aufwallen.
Aber der kalte, berechnende, logische Teil Raistlins gewann die Oberhand. »Was weißt du schon von der Liebe?« fragte er sich höhnisch. »Oder von Verführung? Auf diesem Gebiet bist du wie ein Kind, noch dümmer als dein Koloß von Bruder.«
Erinnerungen aus seiner Jugend überfluteten ihn. Zerbrechlich und kränklich, wie er war, hatte Raistlin sicherlich nicht die Aufmerksamkeit der Frauen auf sich gezogen, nicht wie sein gutaussehender Bruder. Ganz in Anspruch genommen von seinem Studium der Magie, hatte er diesen Verlust niemals sehr gespürt. Oh, einmal hatte er ihn erlebt. Eine von Caramons Freundinnen, gelangweilt von leichten Eroberungen, dachte, daß der Zwillingsbruder des großen Mannes sich als interessant erweisen könnte. Von den spöttischen Bemerkungen seines Bruders und seiner Kumpane angespornt, hatte Raistlin ihren derben Annäherungsversuchen nachgegeben. Es war für beide ein enttäuschendes Erlebnis gewesen. Das Mädchen war dankbar in Caramons Arme zurückgekehrt. Für Raistlin hatte sich einfach bestätigt, was er seit langem vermutet hatte – daß er wahre Glückseligkeit nur in seiner Magie fand.
Aber dieser Körper – jünger, kräftiger, dem seines Bruders ähnlicher – sehnte sich nach einer Leidenschaft, die er niemals zuvor erlebt hatte. Dennoch konnte er ihr nicht nachgeben. »Es würde zu meiner eigenen Zerstörung führen«, sagte er mit kalter Klarheit, »es wäre meinen Zielen nicht förderlich, im Gegenteil, eher schädlich. Sie ist Jungfrau und rein an Geist und Körper. Diese Reinheit ist ihre Stärke. Ich muß sie zwar beflecken, aber ich brauche sie unberührt.«
Nach diesem Entschluß entspannte sich der junge Magier; er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und ließ sich von der Müdigkeit überfluten. Das Feuer erstarb allmählich. Er schloß die Augen und fand die Ruhe, die seine erschöpfte Kraft erneuern würde.
Die Nacht der Botschaft war noch nicht beendet. Ein Meßdiener wurde aus tiefem Schlaf gerissen, und man forderte ihn auf, sich bei Quarat zu melden. Er fand den Elfenkleriker in seinem Zimmer vor. »Ihr habt nach mir gerufen, Herr?« fragte der Meßdiener.
»Was bedeutet dieser Bericht?« herrschte Quarat ihn an und wies auf einen Papierbogen auf seinem Schreibtisch.
Der Meßdiener beugte sich vor. »Genau das, was dort geschrieben steht, Herr.«
»Dieser Fistandantilus war nicht verantwortlich für den Tod meines Sklaven? Es fällt mir schwer, das zu glauben.«
»Trotzdem könntet Ihr den Zwerg persönlich fragen. Er bekannte nach einem hohen Bestechungsgeld, daß er in Wirklichkeit von dem hier genannten Herrn angeheuert worden ist, den die Inbesitznahme seiner Besitztümer durch die Kirche erzürnte.«
»Ich weiß, worüber er erzürnt ist!« schnappte Quarat. »Und meinen Sklaven zu töten, das wäre typisch für Onigon, der hinterlistig ist. Er wagt nicht, mir ins Gesicht zu sehen.« Er dachte nach. »Warum hat dann dieser große Sklave die Tat verübt?« fragte er plötzlich und warf dem Meßdiener einen durchdringenden Blick zu.
»Der Zwerg gab an, daß es sich um ein privates Arrangement zwischen ihm und Fistandantilus gehandelt habe. Es war anscheinend der erste Auftrag dieser Art, den man dem Sklaven Caramon gegeben hatte,«
»Das stand nicht im Bericht«, kritisierte Quarat und musterte den jungen Mann streng.
»Nein«, gab der Meßdiener errötend zu. »Ich... ich habe es nicht gern, etwas Schriftliches über... den Zauberkundigen... festzuhalten. Er könnte so etwas vielleicht lesen...«
»Nun, ich beschuldige dich nicht«, murmelte Quarat. »Du kannst gehen.«
Der Meßdiener nickte, verbeugte sich und kehrte dankbar in sein Bett zurück.
Quarat jedoch saß noch stundenlang in seinem Arbeitszimmer und ging den Bericht immer wieder durch. Dann seufzte er. »Es geht mir genauso schlecht wie dem Königspriester. Phantomen nachjagen, die nicht da sind. Wenn Fistandantilus mich loswerden wollte, könnte er das in Sekunden erledigen. Ich hätte es erkennen müssen – das ist nicht sein Stil.« Schließlich erhob er sich. »Dennoch war er heute abend mit ihr zusammen. Ich frage mich, was das bedeutet. Vielleicht nichts. Vielleicht ist der Mann menschlicher, als ich angenommen habe. Gewiß ist der Körper, mit dem er neuerdings erscheint, gesünder als der, mit dem er sonst immer erschienen ist.«
Der Elf lächelte grimmig, während er seinen Schreibtisch aufräumte und den Bericht sorgfältig verstaute. »Bald ist Heiliger Abend. Ich werde diese Gedanken ruhen lassen, bis die Feiertage vorüber sind. Immerhin naht die Zeit, in der der Königspriester die Götter auffordern will, das Böse im Antlitz Krynns auszulöschen. Das wird diesen Fistandantilus und all seine Anhänger zurück in die Dunkelheit spülen, die sie hervorgebracht hat.« Er gähnte und streckte sich. »Aber zuerst werde ich mich um Onigon kümmern.«