Die Nacht der Botschaft war fast zu Ende. Der Morgen erhellte den Himmel, als Caramon in seiner Zelle lag und in das graue Licht starrte. Morgen würde ein weiteres Spiel stattfinden, das erste seit dem »Unfall«.
Das Leben war für den großen Krieger in den vergangenen Tagen nicht angenehm gewesen. Nach außen hin hatte sich nichts verändert. Die anderen Gladiatoren waren alte Kämpfer und die meisten an die Methoden der Spiele gewöhnt.
»Es ist kein schlechtes System«, erklärte Pheragas mit einem Achselzucken, als Caramon ihm nach seiner Rückkehr aus dem Tempel gegenübertrat. »Sicherlich besser, als wenn sich tausend Leute gegenseitig auf dem Schlachtfeld töten. Wenn sich hier ein Edelmann von einem anderen beleidigt fühlt, wird ihre Fehde unauffällig ausgetragen.«
»Aber der Unschuldige stirbt aus einem Grund, den er nicht versteht!« entgegnete Caramon wütend.
»Sei nicht so kindisch!« höhnte Kiiri, die einen ihrer zusammenklappbaren Dolche polierte. »Nach deinen eigenen Worten hast du als Söldner gearbeitet. Hat dich da der Grund gekümmert, oder hast du ihn verstanden? Hast du nicht gekämpft und getötet, weil du gut bezahlt wurdest? Hättest du gekämpft, wenn das nicht der Fall gewesen wäre? Ich sehe keinen Unterschied.«
»Der Unterschied besteht darin, daß ich eine Wahl hatte!« konterte Caramon mit finsterem Blick. »Und ich kannte den Grund, warum ich kämpfte! Ich habe niemals für jemanden gekämpft, wenn ich nicht überzeugt war, daß er recht hatte! Egal, wieviel Geld man mir bezahlt hätte! Mein Bruder hatte die gleiche Ansicht. Er und ich...« Caramon verstummte.
Kiiri sah ihn mit einem merkwürdigen Blick an, dann schüttelte sie lächelnd den Kopf. »Außerdem«, sagte sie, »verleiht es der Sache eine gewisse Würze, einen Hauch echter Spannung. Du wirst von nun an besser kämpfen. Du wirst sehen.«
Während er in der Dunkelheit lag, versuchte Caramon auf seine langsame, methodische Weise, diese Unterhaltung zu durchdenken. Vielleicht hatten Kiiri und Pheragas recht, vielleicht war er ein Kind, das schrie, weil das helle, glitzernde Spielzeug, mit dem es so gern gespielt hat, ihm plötzlich weh getan hat. Dennoch konnte er nicht einsehen, daß es richtig war. Jeder Mensch hatte einen Anspruch, selbst über seinen Lebensweg und seinen Todesweg zu entscheiden. Kein anderer hatte das Recht, ihm die Entscheidung abzunehmen.
Kurz vor Anbruch der Dämmerung schien ein erdrückendes Gewicht von Caramon zu fallen. Er richtete sich auf, stützte sich auf einen Ellbogen, starrte, ohne etwas zu sehen, in die graue Zelle. Wenn das stimmte, wenn jeder Mensch Anspruch auf eigene Entscheidungen hatte, wie stand es dann mit seinem Bruder? Raistlin hatte seine Entscheidung getroffen – auf dem Pfad der Nacht anstatt auf dem des Tages zu wandeln. Hatte Caramon das Recht, seinen Bruder von diesem Pfad abzubringen?
Seine Gedanken wanderten zurück zu jener Zeit, an die er sich im Gespräch mit Kiiri und Pheragas erinnert hatte, zu jener Zeit vor den Prüfungen, die die glücklichste seines Lebens war, zur Zeit der Söldnerarbeit mit seinem Bruder. Die zwei kämpften gut zusammen, und sie wurden von den Edelleuten immer willkommen geheißen. Obgleich Krieger so zahlreich wie Blätter an den Bäumen waren, so war es doch bei Zauberkundigen, die sich an Kämpfen beteiligen konnten und wollten, ganz anders. Zwar schienen viele Edelleute Zweifel zu hegen, wenn sie Raistlins zerbrechliches und krankes Aussehen bemerkten, waren aber bald von seinem Mut und seinem Geschick beeindruckt. Die Brüder wurden gut bezahlt, und die Nachfrage nach ihnen war bald groß. Aber sie wählten immer sorgfältig nach dem Grund aus, weswegen sie kämpfen sollten.
»Das lag an Raistlin«, flüsterte Caramon sehnsüchtig. »Ich hätte für jeden gekämpft, der Grund interessierte mich wenig. Aber Raistlin bestand darauf, daß der Grund ein gerechter sein müsse. Wir lehnten mehr als einmal einen Auftrag ab, weil er sagte, daß dieser einen starken Mann erfordere, der versucht, stärker zu werden, indem er andere verschlingt... Aber das ist es, was Raistlin gerade macht!« sagte Caramon leise und starrte zur Decke hoch. »Oder nicht? Das sagen sie doch, daß er das tut, diese Zauberkundigen. Aber kann ich ihnen vertrauen?
Par-Salian war derjenige, der ihn in diese Sache hineingezogen hat, er hat es schließlich zugegeben! Raistlin befreite die Welt von dieser Fistandantilus-Kreatur. Und er sagte mir, daß er mit dem Tod des Barbaren nichts zu tun habe. Er hat also wirklich nichts Falsches getan. Vielleicht verurteilen wir ihn zu Unrecht ... Vielleicht haben wir kein Recht, ihn zu zwingen, daß er sich ändert...« Er seufzte. »Was soll ich nur tun?« Er schloß die Augen, dann schlief er ein.
Die Sonne bestrahlte den Himmel. Die Nacht der Botschaft war vorbei. Tolpan erhob sich aus seinem Bett, begrüßte eifrig den neuen Tag und entschied, daß er persönlich die Umwälzung aufhalten werde.
12
»Die Zeit verändern!« sagte Tolpan ungeduldig, schlüpfte über die Gartenmauer in den heiligen Tempelbereich und ließ sich in ein Blumenbeet fallen. Einige Kleriker spazierten im Garten und unterhielten sich erfreut über das Nahen des Heiligen Abends. Um ihre Unterhaltung nicht zu unterbrechen, unternahm Tolpan das, was er als höflich ansah, und legte sich platt zwischen die Blumen, bis sie vorbeigegangen waren, obwohl es bedeutete, daß seine blauen Hosen schmutzig wurden.
Es war ziemlich angenehm, zwischen den roten Heiligabendrosen zu liegen, die ihren Namen erhalten hatten, weil sie nur in der Zeit des Heiligen Abends blühten. Es war warm, zu warm, sagten die meisten Leute. Tolpan grinste. Er empfand die Wärme als herrlich.
Er lauschte interessiert den Klerikern. Die Gesellschaften um den Heiligen Abend mußten wunderbar sein, dachte er und zog kurz in Betracht, daran teilzunehmen. Die erste fand heute abend statt. Sie würde nicht lange dauern, weil jeder genügend Schlaf bekommen wollte, um für die großen Gesellschaften gerüstet zu sein, die am nächsten Tag in der Morgendämmerung beginnen und tagelang dauern würden.
Caramon sollte morgen kämpfen – die Spiele bildeten einen Höhepunkt der Festlichkeiten zum Heiligen Abend. Bei diesem Kampf würden die Mannschaften bestimmt werden, die das Recht hätten, im Endkampf anzutreten – das letzte Spiel des Jahres, bevor der Winter zur Schließung der Arena zwang. Die Gewinner dieses letzten Spiels würden die Freiheit erhalten. Natürlich war bereits entschieden, wer morgen gewinnen würde – Caramons Mannschaft. Aus irgendeinem Grund hatten diese Neuigkeiten Caramon in eine schlimme Depression versetzt.
Tolpan schüttelte den Kopf. Er würde diesen Mann niemals verstehen. Dieses ganze Geschmolle über Ehre. Trotz allem war es doch nur ein Spiel. Jedenfalls erleichterte es die Dinge. Es würde für Tolpan einfach sein, sich wegzuschleichen und sich zu vergnügen.
Aber dann seufzte der Kender. Nein, er hatte wichtige Angelegenheiten zu erledigen – die Umwälzung aufzuhalten war wichtiger als eine Gesellschaft. Er würde sein Vergnügen dieser großen Sache opfern.
Sich als aufopfernd und ehrenhaft empfindend, funkelte er die Kleriker gereizt an und wünschte, sie verschwänden endlich. Schließlich gingen sie in den Tempel. Einen Seufzer der Erleichterung ausstoßend, richtete sich Tolpan auf und wischte den Schmutz von sich ab. Er pflückte eine Heiligabendrose, steckte sie als Schmuck zu Ehren der Zeit in seinen Haarknoten und glitt in den Tempel.
Auch dieser war für die Festlichkeit geschmückt, und seine Schönheit und Pracht raubten dem Kender den Atem. Er sah sich entzückt um und bewunderte die unzähligen Heiligabendrosen, die in Gärten auf ganz Krynn gezüchtet und dann hierhergebracht wurden, um die Korridore des Tempels mit ihrem süßen Duft zu füllen. Körbe mit seltenen und exotischen Früchten standen auf fast jedem Tisch – Geschenke aus ganz Krynn, um von allen im Tempel genossen zu werden. Teller mit Kuchen und Bonbons standen daneben. An Caramon denkend, stopfte Tolpan seine Beutel voll, glücklich malte er sich die Freude des großen Mannes aus. Er konnte sich nicht vorstellen, daß Caramon angesichts eines in Kristallzucker gewälzten Mandelplätzchens depressiv bleiben würde.