Tolpan streifte, in Glückseligkeit verloren, durch die Gänge. Er vergaß fast den Grund seines Kommens und mußte sich ständig an seine wichtige Mission erinnern. Niemand schenkte ihm Beachtung. Jeder, der an ihm vorbeiging, war mit der bevorstehenden Feier, den Geschäften der Regierung oder der Kirche oder beidem beschäftigt. Nur wenige schenkten Tolpan einen zweiten Blick. Gelegentlich starrte ihn ein Wächter streng an, aber Tolpan lächelte freudig, winkte und ging weiter.
Endlich fand er sich in dem Korridor wieder, der nicht geschmückt oder mit fröhlichen Leuten gefüllt war, in dem nicht die Klänge der Chöre widerhallten, die ihre Hymnen zum Heiligen Abend einübten. In diesem Korridor waren die Vorhänge immer zugezogen. Er war kalt, finster und abstoßend, jetzt mehr denn je im Gegensatz zum Rest der Welt.
Tolpan schlich sich durch den Korridor. Sich dicht an die Tür lehnend, die er gesucht hatte, hörte er Raistlin sprechen, und seinen Worten entnahm er, daß er einen Gast hatte.
Verdammt, war Tolpans erster Gedanke, jetzt muß ich warten, bis diese Person geht. Und ich befinde mich auch noch auf einer wichtigen Mission. Ich frage mich, wie lange es dauern wird. Er legte sein Ohr an das Schlüsselloch und schreckte hoch, als er eine Frauenstimme dem Magier antworten hörte.
»Diese Stimme klingt vertraut«, flüsterte der Kender und drückte sich noch enger an die Tür, um besser hören zu können. »Natürlich! Crysania! Ich frage mich, was sie hier sucht.«
»Du hast recht, Raistlin«, hörte Tolpan sie mit einem Seufzer sagen, »es ist hier viel erholsamer als in diesen protzigen Korridoren. Beim ersten Mal war ich verängstigt. Du lächelst? Aber es stimmt. Dieser Korridor schien so düster und verlassen und kalt. Aber jetzt sind die Gänge des Tempels von einer erstickenden Wärme erfüllt. Selbst der festliche Schmuck macht mich depressiv. Ich sehe so viel Verschwendung, vergeudetes Geld, mit dem man den Notleidenden helfen könnte.«
Sie verstummte, und Tolpan hörte ein Rascheln. Da niemand etwas sagte, hörte der Kender zu lauschen auf und legte die Augen an das Schlüsselloch. Er konnte das Zimmer recht gut überblicken. Die schweren Vorhänge waren zugezogen, aber das Innere von sanftem Kerzenlicht erleuchtet. Crysania saß auf einem Stuhl mit dem Gesicht zur Tür. Das raschelnde Geräusch, das er gehört hatte, rührte offensichtlich von einer ungeduldigen oder enttäuschten Bewegung her. Ihr Kopf ruhte in ihrer Hand, und der Ausdruck ihres Gesichts war verwirrt.
Aber das war es nicht, was den Kender die Augen aufreißen ließ. Crysania hatte sich verändert! Verschwunden waren die einfachen schmucklosen Roben, die strenge Frisur. Sie war zwar wie die anderen Klerikerinnen in weiße Roben gekleidet, aber diese waren mit feinen Stickereien verziert. Ihre Arme waren bloß, aber ein schmales goldenes Band schmückte einen Arm, ließ ihre makellose weiße Haut hervortreten. Ihr Haar fiel weich um ihre Schultern. Ihre Wangen waren leicht gerötet, ihre Augen warm, und ihr Blick ruhte auf der schwarzgekleideten Gestalt, die ihr mit dem Rücken zu Tolpan gegenübersaß.
»Hm«, murmelte der Kender interessiert. »Tika hatte recht!«
»Ich weiß nicht, warum ich hierhergekommen bin«, hörte Tolpan Crysania nach einem Augenblick sagen.
Ich aber, dachte der Kender fröhlich und legte schnell das Ohr ans Schlüsselloch, um besser hören zu können.
Sie fuhr fort: »Ich bin von solcher Hoffnung erfüllt, wenn ich dich besuchen komme, aber immer gehe ich unglücklich. Ich will dir die Wege der Rechtschaffenheit und der Wahrheit zeigen und dir beweisen, daß wir nur durch das Befolgen dieser Wege hoffen können, Frieden auf unsere Welt zu bringen. Aber immer wendest und drehst du meine Worte nach deinem Belieben.«
Raistlin murmelte leise etwas, das Tolpan nicht verstehen konnte. Der Kender hörte, wie sich Crysania auf ihrem Stuhl bewegte, und riskierte einen schnellen Blick. Der Magier stand dicht bei ihr, eine Hand ruhte auf ihrem Arm. Als sie sprach, lag in ihrer Stimme so viel Hoffnung und Liebe und Freude, daß es Tolpan ganz warm wurde.
»Ist das dein Ernst?« fragte Crysania den Magier. »Berühren meine armseligen Worte etwas in dir? Nein, sieh nicht weg! Ich kann in deinem Gesicht lesen, daß du darüber nachgedacht hast. Wir sind uns so ähnlich! Ich wußte es von Anfang an, als ich dir begegnete. Ah, du lächelst wieder, du verhöhnst mich... Ich kenne die Wahrheit. Du hast mir das Gleiche im Turm gesagt. Du hast gesagt, daß ich genauso ehrgeizig bin wie du. Du hast recht. Wir führen beide ein einsames Leben, nur unseren Studien gewidmet. Wir öffnen niemandem unser Herz, nicht einmal jenen, die uns am nächsten stehen. Du umgibst dich mit Dunkelheit, aber, Raistlin, die Wärme, das Licht...«
Tolpan legte schnell sein Auge ans Schlüsselloch. Er wird sie gleich küssen, dachte er aufgeregt. Das ist wundervoll! Warte, bis ich es Caramon erzähle. »Nun mach schon, du Dummkopf!« wies er Raistlin ungeduldig an, der ruhig dasaß.
Plötzlich erhob sich Raistlin aus seinem Stuhl. »Du solltest lieber gehen«, sagte er mit heiserer Stimme.
Tolpan seufzte und zog sich von der Tür zurück. Er lehnte sich gegen eine Wand und schüttelte den Kopf.
Man hörte ein tiefes rauhes Husten und Crysanias Stimme, sanft und voll Sorge.
»Es ist nichts«, sagte Raistlin, als er die Tür öffnete. »Ich fühle mich schon seit einigen Tagen nicht wohl. Errätst du nicht den Grund?« fragte er.
»Nein«, murmelte Crysania. »Was meinst du?«
»Den Zorn der Götter«, antwortete Raistlin. Es war nicht die Antwort, die Crysania erhofft hatte. Sie senkte den Kopf. Raistlin bemerkte es nicht und sprach weiter. »Ihr Zorn schlägt auf mich ein, als ob sich die Sonne diesem erbärmlichen Planeten immer mehr näherte. Vielleicht ist das der Grund, warum du so unglücklich bist.«
»Vielleicht«, murmelte Crysania.
»Morgen ist der Heilige Abend«, sprach Raistlin leise weiter. »Dreizehn Tage später wird der Königspriester seine Forderung an die Götter richten. Er und seine Minister erstellen bereits einen Entwurf. Die Götter wissen es. Sie haben ihm eine Warnung geschickt – das Verschwinden der Kleriker. Aber er hat sie nicht beachtet. Jeden Tag vom Heiligen Abend an werden die Warnzeichen deutlicher werden. Hast du jemals die ›Chroniken der letzten dreizehn Tage‹ von Astinus gelesen? Sie sind unangenehm zu lesen, und sie werden noch unangenehmer zu erleben sein.«
Crysania sah ihn an, ihr Gesicht leuchtete auf. »Dann komm doch mit uns vorher zurück«, sagte sie eifrig. »Par-Salian hat Caramon ein magisches Gerät mitgegeben, das uns zurück in unsere Zeit bringen wird. Der Kender hat es mir gesagt...«
»Was für ein magisches Gerät?« verlangte Raistlin plötzlich zu wissen, und der seltsame Ton in seiner Stimme ließ den Kender aufmerken und erschreckte Crysania. »Wie sieht es aus? Wie funktioniert es?« Seine Augen brannten fiebrig.
»Ich... ich weiß es nicht«, stammelte Crysania.
»Oh, ich kann es dir sagen«, bot Tolpan an und trat von der Wand nach vorne. »Es tut mir leid, ich wollte euch nicht erschrecken. Es ist nur so, daß ich nicht anders konnte, als mitzuhören. Einen schönen Heiligen Abend wünsche ich euch beiden übrigens.«
Sowohl Raistlin als auch Crysania starrten ihn erstaunt an. Unverfroren plapperte Tolpan weiter. »Worüber sprachen wir? Oh, das magische Gerät. Na gut«, fuhr er eiliger fort, als er sah, daß Raistlins Augen sich auf beunruhigende Weise verengten, »wenn es ausgeklappt ist, sieht es aus wie ein... ein Zepter, und es hat eine... eine Kugel an einem Ende, alles glitzert von Juwelen. Es ist ungefähr so groß.« Der Kender breitete seine Arme aus. »So ist es, wenn es ausgebreitet ist. Dann hat Par-Salian etwas damit gemacht, und es...«
»Es faltet sich selbst zusammen«, beendete Raistlin, »bis du es in deine Tasche stecken kannst.«