Raistlin erwachte an diesem Tag in der dunklen Stunde vor der Morgendämmerung so krank, daß er nicht aufstehen konnte. Er lag im Schweiß gebadet nackt da, ein Opfer der fieberhaften Halluzinationen, die ihn veranlaßt hatten, seine Roben von sich zu reißen. Die Götter waren wirklich in der Nähe, aber es war die Nähe eines bestimmten Gottes – seiner Göttin, der Königin der Finsternis —, die ihn in Mitleidenschaft zog. Er konnte ihren Zorn spüren, so wie er den Zorn aller Götter über den Versuch des Königspriesters spüren konnte, das Gleichgewicht zu zerstören, das sie in der Welt aufrechtzuerhalten versuchten.
Folglich träumte er von seiner Königin, aber sie hatte in ihrem Zorn entschieden, nicht zu erscheinen. Er hatte nicht von einem entsetzlichen fünfköpfigen Drachen geträumt, dem Vielfarbenen Drachen, der versuchen würde, die Welt im Krieg der Lanze zu versklaven. Er hatte sie nicht als die Finstere Kriegerin gesehen, die ihre Legionen in den Tod und die Zerstörung führte. Nein, sie war ihm als die Schwarze Verführerin der Nacht erschienen, die schönste aller Frauen, und so hatte sie die Nacht bei ihm verbracht und ihn mit der Verzückung des Fleisches gequält.
Er schloß die Augen, zitterte in dem Raum, der trotz der Hitze draußen kalt war. Er stellte sich wieder das duftende dunkle Haar vor, das über ihn strich; er spürte ihre Wärme. Er streckte die Hände aus, ließ sich in ihren Zauber fallen, teilte das Haar – und sah in Crysanias Gesicht!
Der Traum endete, sowie sein Geist wieder die Kontrolle übernahm. Und jetzt lag er wach, jubelte über seinen Sieg, obwohl er wußte, welchen Preis er bezahlt hatte.
»Ich werde nicht nachgeben«, murmelte er. »So einfach wirst du nicht den Sieg über mich davontragen, meine Königin.« Er taumelte aus dem Bett, zog seine schwarzen Roben über und ging zu seinem Schreibtisch. Dort las er einen uralten Text über magische Utensilien und begann seine mühsame Suche.
Auch Crysania hatte schlecht geschlafen. Wie Raistlin spürte sie die Nähe der Götter, aber ihren Gott – Paladin – am stärksten. Sie spürte seinen Zorn, aber er war mit so tiefem Kummer vermischt, daß Crysania es nicht ertragen konnte. Von Schuldgefühlen überwältigt, wandte sie sich von dem gütigen Gesicht ab und begann zu laufen. Sie lief und lief, weinte, unfähig zu sehen, wohin sie ging. Sie stolperte und fiel ins Nichts, ihre Seele war von Angst zerrissen. Dann fingen starke Arme sie auf. Sie war von weichen schwarzen Roben umgeben, wurde an einen muskulösen Körper gedrückt. Schlanke Finger streichelten ihr Haar, beruhigten sie. Sie sah in ein Gesicht...
Glocken. Glocken durchbrachen die Stille. Erschreckt richtete sich Crysania im Bett auf und sah sich verstört um. Dann erinnerte sie sich an das Gesicht, das sie gesehen hatte, erinnerte sich an die Wärme seines Körpers und den Trost, den sie gefunden hatte. Sie legte ihren schmerzenden Kopf in ihre Hände und weinte.
Tolpan verspürte beim Erwachen zuerst Enttäuschung. Heute war der Heilige Abend, erinnerte er sich, und es war ebenfalls der Tag, an dem laut Raistlin die Unheilvollen Geschehnisse einsetzen sollten. Er sah sich in dem grauen Licht um, das durch das Fenster drang, und das einzige Unheilvolle Geschehnis, das Tolpan bemerkte, war Caramon, der sich auf dem Fußboden durch seine morgendlichen Übungen pustete.
Obgleich Caramons Tage mit Waffenübungen ausgefüllt waren, kämpfte der große Mann in einer niemals endenden Schlacht mit seinem Gewicht. Man hatte ihn von der Diät erlöst und ihm erlaubt, das Gleiche wie die anderen zu essen. Aber der scharfäugige Zwerg bemerkte bald, daß Caramon ungefähr fünfmal so viel aß wie jeder andere!
Einst hatte der große Mann aus Vergnügen gegessen. Jetzt, nervös und unglücklich und von Gedanken an seinen Bruder besessen, suchte Caramon Trost im Essen, so wie andere Trost im Trinken suchen.
Arak hatte folglich angeordnet, daß Caramon nur essen durfte, wenn er täglich eine Reihe von anstrengenden Übungen ausführte. Caramon fragte sich oft, wie der Zwerg es herausbekommen würde, wenn er einen Tag ausfallen ließ, da er die Übungen früh am Morgen vor dem Aufwachen der anderen machte. Aber Arak wußte es irgendwie. An einem Morgen hatte Caramon die Übungen ausgelassen, und der Zutritt in den Speisesaal wurde ihm von einem grinsenden, keulenschwingenden Raag verwehrt.
Tolpan kletterte auf einen Stuhl und lugte aus dem Fenster, um zu sehen, ob draußen etwas Unheilvolles passieren würde. Unverzüglich war er überglücklich. »Caramon! Guck mal!« rief er aufgeregt. »Hast du jemals einen Himmel von dieser besonderen Schattierung gesehen?«
»Neunundneunzig, hundert«, prustete der große Mann. Er ging zu dem vergitterten Fenster, um einen Blick hinauszuwerfen. Plötzlich blinzelte er und riß dann die Augen weit auf. »Nein«, murmelte er, »habe ich noch nicht. Und ich habe in meinem Leben schon viele seltsame Dinge gesehen.«
»O Caramon«, rief Tolpan, »Raistlin hatte recht. Er sagte...«
»Raistlin!«
Tolpan schluckte. Er wollte das Thema eigentlich nicht aufbringen.
»Wo hast du Raistlin gesehen?« herrschte Caramon ihn an. Seine Stimme klang tief und streng.
»Im Tempel natürlich«, antwortete Tolpan, als wäre es das Normalste von der Welt. »Habe ich nicht erwähnt, daß ich gestern dort war?«
»Ja, aber du...«
»Nun, warum sollte ich sonst gehen, wenn nicht, um unsere Freunde zu sehen?«
»Du hast niemals...«
»Ich habe Crysania und Raistlin gesehen. Ich bin sicher, daß ich das erwähnt habe. Du hörst mir aber nie zu«, beklagte sich Tolpan. »Du sitzt jede Nacht auf deinem Bett, brütest und schmollst und sprichst mit dir selbst. ›Caramon‹, könnte ich sagen, ›das Dach stürzt ein‹, und du würdest sagen: ›Das ist aber nett, Tolpan.‹«
»Hör mal, Kender. Ich weiß genau, daß ich es gehört hätte, wenn du...«
»Crysania, Raistlin und ich hielten einen wundervollen kleinen Schwatz über den Heiligen Abend«, fuhr Tolpan hastig fort. »Nebenbei, Caramon, du solltest mal sehen, wie wunderschön sie den Tempel geschmückt haben! Er ist voll von Rosen – sag mal, habe ich daran gedacht, dir die Süßigkeiten zu geben? Warte, dort in meinem Beutel.« Der Kender versuchte vom Stuhl zu springen, aber Caramon hinderte ihn daran. »Nun, vermutlich kann das warten. Wo war ich stehengeblieben? O ja, Raistlin, Crysania und ich haben uns unterhalten. Caramon, es war so aufregend. Tika hatte recht, Crysania ist in deinen Bruder verliebt. Es war wirklich lustig. Ich lehnte an Raistlins verschlossener Tür, ruhte mich aus, wartete auf das Ende ihrer Unterhaltung und sah zufällig durchs Schlüsselloch. Er hat sie fast geküßt, Caramon! Dein Bruder! Kannst du dir das vorstellen? Aber er hat es dann doch nicht getan.« Der Kender seufzte. »Er hat sie praktisch angeschrien, daß sie gehen solle. Das hat sie getan, aber sie wollte nicht, das kann ich dir versichern. Sie hatte sich richtig fein gemacht und sah sehr hübsch aus.«
»In ihn verliebt?« brummte Caramon. Stirnrunzelnd drehte er sich um.
»Unverkennbar«, gab der Kender schlagfertig zurück, eilte zu seinem Beutel und wühlte ihn durch, bis er die Plätzchen gefunden hatte. Sie waren halb geschmolzen und hingen in einer klebrigen Masse zusammen. Aber Tolpan war sich sicher, daß Caramon das nicht auffallen würde. Er hatte recht. Der große Mann nahm die klebrige Masse an und begann zu essen, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
»Wird Raistlin seinen Plan durchführen?« fragte Caramon. »Soll ich versuchen, ihn aufzuhalten? Habe ich das Recht, ihn aufzuhalten? Wenn Crysania sich entscheidet, mit ihm zu gehen, ist das nicht ihre Entscheidung? Vielleicht wäre es das Beste für ihn.« Er leckte seine klebrigen Finger ab. »Vielleicht, wenn sie ihn genug liebt...«
Tolpan seufzte erleichtert auf und sank auf sein Bett zurück, um auf den Ruf zum Frühstück zu warten. Caramon hatte nicht daran gedacht, den Kender zu fragen, warum er Raistlin aufgesucht hatte. Sein Geheimnis war sicher...