Der Himmel am Heiligen Abend war klar, so klar, daß es schien, als könnte man die hinter der riesigen Kuppel liegenden Reiche erkennen. Obwohl jeder hochsah, machten sich nur wenige die Mühe, ihre Blicke lang genug nach oben gerichtet zu halten, um etwas zu erkennen. Denn der Himmel hatte in der Tat »eine besondere Farbe«, wie Tolpan sagte – er war grün.
Es war ein seltsames, ungesundes Grün. Die Farbe nahm einem zusammen mit der Hitze und der schweren Luft, bei der man kaum atmen konnte, die Freude und das Vergnügen am Heiligen Abend. Jene, die gezwungen waren, an Gesellschaften teilzunehmen, eilten durch schwüle Straßen, sprachen verärgert über das seltsame Wetter, betrachteten es als persönliche Beleidigung. Aber sie redeten im Flüsterton, und jeder verspürte einen Hauch von Angst.
Die Gesellschaft im Tempel war etwas freudiger gestimmt. Sie war in den Gemächern des Königspriesters versammelt, die von der Außenwelt abgeschlossen waren. Niemand konnte den seltsamen Himmel sehen, und alle, die mit der Gegenwart des Königspriesters in Berührung kamen, lühlten ihre Angst schwinden. Crysania stand wieder unter dem Zauber des Königspriesters und saß lange Zeit neben ihm. Sie war schweigsam, ließ sich von seiner strahlenden Anwesenheit trösten und verbannte die dunklen, alptraumhaften Gedanken. Aber auch sie hatte den grünen Himmel gesehen. An Raistlins Worte denkend, versuchte sie sich an das zu erinnern, was sie über die Dreizehn Tage gehört hatte.
Aber es waren nur Kindergeschichten, die sich mit ihren Träumen der vergangenen Nacht vermischten. Er wird die Warnungen beachten... Sie zwang sich zu denken, daß noch Zeit zur Veränderung bestand, und wenn sich das als unmöglich erweisen sollte, dann war der Königspriester trotzdem unschuldig. In seinem Licht sitzend, verbannte sie das Bild des verängstigten Sterblichen mit seinen blaßblauen Augen, die nervös in alle Richtungen huschten, aus ihrem Geist. Sie sah einen starken Mann, der die Minister, die ihn getäuscht hatten, verurteilte, der das unschuldige Opfer ihres Verrates war...
Die Menge in der Arena war an diesem Tage gering; die meisten wagten nicht, draußen unter dem grünen Himmel zu sitzen, dessen Farbe sich im Lauf des Tages beängstigend vertiefte.
Die Gladiatoren waren unruhig, nervös und vollführten ihre Schaustücke nur halbherzig. Die Zuschauer weigerten sich, ihnen Beifall zu klatschen, sie auszupfeifen oder ihnen höhnische Bemerkungen zuzuwerfen.
»Habt ihr häufig so einen Himmel?« fragte Kiiri und sah mit einem Schauder hoch, während sie mit Caramon und Pheragas im Korridor stand und auf ihren Auftritt in der Arena wartete. »Wenn das der Fall ist, dann ist mir klar, warum mein Volk sich entschieden hat, unter dem Wasser zu leben!«
»Mein Vater hat die Meere bereist«, knurrte Pheragas, »so wie mein Großvater vor ihm und auch ich, bevor ich versuchte, mit einem Eisenbolzen ein wenig Verstand in den Kopf des Ersten Schiffsoffiziers zu hämmern, und für meine Bemühungen hierhergeschickt wurde. Und ich habe niemals einen Himmel von dieser Farbe gesehen. Oder davon gehört. Vermutlich kündigt er Unheil an.«
»Zweifellos«, stimmte Caramon unbehaglich zu. Plötzlich war dem großen Mann klar geworden, daß die Umwälzung in dreizehn Tagen stattfinden würde! Dreizehn Tage, und diese zwei Freunde, die ihm so teuer wie Sturm und Tanis geworden waren, diese zwei Freunde würden umkommen! Die restliche Bevölkerung Istars bedeutete ihm wenig. So wie er sie erlebt hatte, war es ein egoistisches Volk, das sich nur für Vergnügungen und Geld interessierte. Aber diese zwei... Er mußte sie irgendwie warnen. Wenn sie die Stadt verließen, konnten sie vielleicht entkommen.
Gedankenverloren schenkte er dem Kampf in der Arena wenig Beachtung. Er fand zwischen dem Roten Minotaurus, so genannt wegen seines rötlichbraunen Felles, das sein Tiergesicht bedeckte, und einem jungen Kämpfer statt. Dieser Mann war erst seit wenigen Wochen in der Schule, und Caramon hatte die Ausbildung des jungen Mannes mit väterlichem Vergnügen beobachtet.
Aber dann merkte er, wie Pheragas sich neben ihm versteifte. Caramons Blick ging zum Ring. »Was ist los?«
»Der Dreizack«, sagte Pheragas ruhig. »Hast du in der Requisitenkammer je so einen gesehen?«
Caramon starrte angestrengt auf die Waffe des Roten Minotaurus und blinzelte gegen die unerbittliche Sonne, die im grünglänzenden Himmel brannte. Langsam schüttelte er den Kopf, fühlte Zorn in sich aufsteigen. Der Minotaurus war dem jungen Mann überlegen, hatte seit Monaten in der Arena gekämpft und würde mit Caramons Mannschaft um die Meisterschaft rivalisieren. Der einzige Grund, warum der junge Mann sich so lange behaupten konnte, war die geübte Schauspielerei des Minotaurus, der in vorgeblicher Wut Schnitzer machte, was jedoch bei den Zuschauern nur ein wenig Gelächter hervorrief.
»Ein echter Dreizack. Arak beabsichtigt zweifellos, den jungen Mann eine Feuertaufe erleben zu lassen«, murmelte Caramon. »Schau mal, ich hatte recht.« Er zeigte auf drei blutende Wunden, die plötzlich auf der Brust des jungen Mannes erschienen waren.
Pheragas sagte nichts, sondern warf Kiiri einen Blick zu, die darauf die Schultern zuckte.
»Was ist los?« schrie Caramon über dem Aufbrüllen der Menge. Der Rote Minotaurus hatte gerade gewonnen, indem er seinem Gegner ein Bein stellte und ihn dann auf der Matte festhielt; die Spitzen des Dreizacks lagen an seinem Hals.
Der junge Mann taumelte auf die Füße und heuchelte Scham, Zorn und Demütigung, wie er es gelernt hatte. Er schüttelte die Faust gegen seinen siegreichen Gegner, bevor er aus der Arena stolzierte. Aber anstatt zu grinsen, als er an Caramon und seiner Mannschaft vorbeiging, wirkte der junge Mann seltsam besorgt und sah sie nicht an. Er war blaß, und Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, und er hielt eine Hand auf seine blutigen Wunden gedrückt.
»Onigons Mann«, erklärte Pheragas ruhig und legte eine Hand auf Caramons Arm. »Preise dich glücklich, mein Freund. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen.«
»Was?« Caramon starrte ihn verwirrt an. Dann hörte er einen schrillen Schrei. Er wirbelte herum und sah den jungen Mann zusammengekrümmt auf den Boden stürzen.
»Los!« befahl Kiiri und hielt Caramon fest. »Wir sind jetzt dran. Sieh, der Rote Minotaurus tritt ab.«
Der Minotaurus schlenderte an ihnen vorbei; er übersah sie als Rasse, die man übersieht, da sie minderwertig ist. Er ging auch an dem sterbenden jungen Mann vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Arak kam aus dem Tunnel hervorgehastet, gefolgt von Raag. Mit einer Geste befahl der Zwerg dem Oger, den jetzt leblosen Körper beiseite zu schaffen.
Caramon zögerte, aber Kiiri grub ihre Nägel in seinen Arm, zog ihn hinaus in das entsetzliche Sonnenlicht. »Die Rechnung für den Barbaren ist beglichen«, zischte sie aus einem Mundwinkel. »Dein Herr hatte offensichtlich nichts damit zu tun. Jetzt sind Onigon und Quarat quitt.«
Die Menge begann zu jubeln. Aber Caramon hörte sie nicht. Raistlin hatte ihm die Wahrheit gesagt! Er hatte nichts mit dem Tod des Barbaren zu tun! Caramon wurde von einem Gefühl der Erleichterung überflutet.
Er konnte nach Hause gehen! Schließlich begriff er. Raistlin hatte versucht, es ihm zu erklären. Ihre Wege trennten sich, aber sein Bruder hatte das Recht, den Weg einzuschlagen, für den er sich entschieden hatte. Caramon hatte sich geirrt, die Zauberkundigen hatten sich geirrt, Crysania hatte sich geirrt. Raistlin wollte niemandem schaden, er stellte keine Bedrohung dar. Er wollte einfach nur in Frieden seinen Studien nachgehen.
In der Arena winkte Caramon der jubelnden Menge zu. Er genoß sogar den heutigen Kampf. Dieser war natürlich manipuliert, damit seine Mannschaft gewann. Aber Caramon brauchte sich darüber keine Gedanken zu machen. Er würde dann schon zurück sein, zu Hause bei Tika. Er würde natürlich zuvor seine zwei Freunde warnen und sie drängen, diese zum Untergang geweihte Stadt zu verlassen. Dann würde er sich bei seinem Bruder entschuldigen, ihm sagen, daß er ihn verstehe, und er würde Crysania und Tolpan zurück in die Zeit nehmen und ein neues Leben anfangen. Er würde morgen aufbrechen oder vielleicht einen Tag später.