An diesem Abend empfand Denubis den Gesang als störend, da er sich um die junge Frau sorgte, die er am Morgen in den Tempel gebracht hatte. Eigentlich war es ihm fast gelungen, an diesem Abend nicht zu erscheinen, aber im letzten Moment hatte ihn Gerald in Anspruch genommen, ein alter Kleriker, dessen Tage auf Krynn gezählt waren und der seinen größten Trost in der Abendandacht fand. Höchstwahrscheinlich, sinnierte Denubis, weil der alte Mann fast völlig taub war. Es war völlig unmöglich gewesen, Gerald zu erklären, daß er, Denubis, woanders hingehen mußte. Schließlich hatte Denubis es aufgegeben und dem alten Kleriker seinen Arm zur Unterstützung gereicht. Jetzt stand Gerald mit entzücktem Gesichtsausdruck neben ihm.
Denubis dachte über die junge Frau nach, als er eine sanfte Berührung an seinem Arm spürte. Der Kleriker zuckte zusammen und sah sich schuldbewußt um; er fragte sich, ob seine Unaufmerksamkeit bemerkt worden war und darüber Bericht erstattet werden würde. Zuerst konnte er nicht erkennen, wer ihn berührt hatte, denn seine beiden Nachbarn waren augenscheinlich in ihre Gebete vertieft. Dann spürte er wieder die Berührung und erkannte, daß sie von hinten kam. Als er sich umschaute, sah er eine Hand, die unauffällig aus dem Vorhang geglitten war.
Die Hand winkte ihm zu. Denubis verließ verwirrt seinen Platz, tastete sich zum Vorhang, wobei er versuchte, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Die Hand hatte sich zurückgezogen, und Denubis konnte den Schlitz in den Falten des schweren Samtvorhangs nicht finden. Als er sich sicher war, daß jeder Pilger seine Augen in Abscheu auf ihn gerichtet hatte, fand er endlich die Öffnung und stolperte durch.
Ein junger Meßdiener mit glattem und sanftem Gesicht verbeugte sich vor dem schwitzenden Kleriker. »Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Euer Abendgebet unterbrochen habe, Verehrter Sohn, aber der Königspriester wünscht, daß Ihr ihn mit einigen Augenblicken Eurer Zeit beehrt, wenn es Euch angenehm ist.« Der Meßdiener sprach die vorgeschriebenen Worte mit so lässiger Höflichkeit, daß es einem Beobachter nicht ungewöhnlich erschienen wäre, wenn Denubis »Nein, nicht jetzt. Ich muß mich erst um andere Angelegenheiten kümmern. Vielleicht später?« geantwortet hätte.
Denubis jedoch sagte nichts dergleichen. Sichtbar erblassend, murmelte er etwas wie: »Fühle mich sehr geehrt«, seine Stimme brach ab. Der Meßdiener war an solche Reaktionen gewohnt, drehte sich um und ging den Weg voran durch die riesigen, luftigen, sich schlängelnden Korridore des Tempels zu den Gemächern von Istars Königspriester.
Denubis, der hinter dem Jüngeren herschritt, brauchte sich keine Sorgen um den Grund zu machen. Natürlich ging es um die junge Frau. Er war seit gut zwei Jahren nicht mehr in der Nähe des Königspriesters gewesen, und es konnte kein Zufall sein, daß er gerade an diesem Tag, an dem er eine Verehrte Tochter sterbend in einer Gasse gefunden hatte, zu ihm gerufen wurde.
Vielleicht war sie gestorben, dachte Denubis traurig. Der Königspriester wollte ihm das nun persönlich mitteilen. Das war wirklich nett von dem Mann – vielleicht nicht gerade typisch für einen, der so gewichtige Probleme wie das Schicksal von Nationen im Kopf hatte, aber wirklich nett.
Er hoffte, daß sie nicht gestorben war. Nicht nur um ihretwillen, sondern um des Menschen und des Kenders willen. Denubis hatte auch über sie nachgedacht, insbesondere über den Kender. Wie fast alle Bewohner Krynns hielt Denubis nicht viel von Kendern, die Regeln und persönlichem Eigentum gegenüber keinen Respekt hegten. Aber dieser Kender schien anders zu sein. Viele Kender, die Denubis kannte, wären beim ersten Anzeichen von Ärger davongelaufen. Dieser war mit rührender Treue bei seinem dicken Freund geblieben und hatte sich sogar für ihn eingesetzt.
Denubis schüttelte traurig den Kopf. Wenn das Mädchen tot war, würden sie... Nein, er konnte nicht daran denken. Ein aufrichtiges Gebet zu Paladin murmelnd, das alle Beteiligten, wenn sie es wert waren, beschützen sollte, riß Denubis sich von seinen bedrückenden Gedanken los und zwang sich, die Pracht der privaten Gemächer des Königspriesters im Tempel zu bewundern.
Er hatte die Schönheit vergessen, die milchigen weißen Wände, die in sanftem Licht glänzten, das – so lautete die Legende – von den Steinen selbst erzeugt wurde. In ihnen verliefen blasse hellblaue Adern, die das strenge und harte Weiß glätteten.
Der herrliche Korridor ging in die Schönheit der Vorkammer über. Hier stiegen die Wände zur Stützung der Kuppel nach oben wie das Gebet eines Sterblichen, das zu den Göttern emporsteigt. Fresken der Götter waren darauf in hellen Farben gemalt. Auch sie schienen in ihrem eigenen Licht zu glühen – Paladin, der Platindrache und Gott des Guten; Gilean, der Gott der Schriften; selbst die Königin der Finsternis war hier vertreten – denn der Königspriester wollte keinen Gott beleidigen. Sie war als fünfkopfiger Drache dargestellt, aber es war ein so demütiger und harmloser Drache, daß sich Denubis fragte, warum sie sich nicht hinüberwälzte und Paladins Fuß leckte.
Aber dies fiel ihm erst später ein. Gerade jetzt war er zu nervös, um die wundervollen Gemälde zu betrachten. Sein Blick war starr auf die sorgfältig geschmiedeten Platintüren gerichtet, die zum Herz des Tempels führten.
Die Türen öffneten sich und strahlten ein prachtvolles Licht aus. Die Zeit seiner Audienz war gekommen.
Die Empfangshalle vermittelte den Ankömmlingen zuerst ein Gefühl der eigenen Demut und Bescheidenheit. Dies war das Herz des Guten. Hier wurden die Pracht und die Macht der Kirche repräsentiert. Die Türen führten zu einem großen kreisförmigen Saal mit einem Boden aus poliertem weißen Granit. Der Boden setzte sich nach oben hin in die Wände fort, die die Blätter einer riesigen Rose bildeten, sich himmelwärts erhoben und eine große Kuppel stützten. Die Kuppel selbst bestand aus Kristall, das den Glanz der Sonne und der Monde in sich aufnahm. Ihre strahlende Helligkeit füllte jeden Teil des Saales.
Eine riesige gewölbte Welle in Meerschaumblau zog sich von der Mitte des Bodens in eine Nische, die sich gegenüber der Tür befand. Hier stand ein einzelner Thron. Strahlender als das Licht, das von der Kuppel herabströmte, waren das Licht und die Wärme, die sich von diesem Thron ergossen.
Denubis betrat den Saal mit gebeugtem Haupt und mit gefalteten Händen, wie es angemessen war. Es war Abend, und die Sonne war bereits untergegangen. Der Saal, den Denubis betrat, war von Kerzen beleuchtet. Dennoch hatte Denubis wie immer den Eindruck, daß er in einen sonnenüberfluteten offenen Hof trat.
Tatsächlich waren seine Augen kurz von der Helligkeit geblendet. Seinen Blick vorschriftsmäßig gesenkt, bis ihm die Erlaubnis erteilt wurde, ihn zu heben, erhaschte er kurze Eindrücke vom Boden, von den Gegenständen und den im Saal Anwesenden. Er sah die Stühle, denen er sich näherte.
»Hebe deine Augen, Verehrter Sohn Paladins«, ertönte eine Stimme, deren musikalischer Klang Tränen in Denubis’ Augen trieb.
Denubis sah auf, und seine Seele erbebte ehrfürchtig. Vor zwei Jahren war er dem Königspriester so nahe gewesen, und die Zeit hatte sein Gedächtnis getrübt. Wie beglückend es doch war, ihn jeden Morgen zu sehen, wie man die Sonne sieht, die am Horizont erscheint, vor ihm zu stehen und die Seele von der Reinheit und Klarheit seines Glanzes brennen zu spüren.
Dieses Mal werde ich es mir merken, dachte Denubis streng. Aber niemand, der von einer Audienz bei dem Königspriester kam, konnte sich genau erinnern, wie er aussah. Schon der Versuch schien wie eine Gotteslästerung – als ob der Gedanke, daß auch er aus bloßem Fleisch bestehe, eine Entweihung gewesen wäre. Man konnte sich nur noch erinnern, daß man sich in der Gegenwart einer unglaublich schönen Person befunden hatte.
Die Aura von Licht umgab Denubis, und unverzüglich wurde er von den schrecklichsten Schuldgefühlen wegen seiner Zweifel und Befürchtungen und Fragen zerrissen. Er sah sich als die erbärmlichste Kreatur auf Krynn an. Er fiel auf die Knie, bat um Vergebung, war sich fast nicht bewußt, was er tat, und wußte nur, daß es das einzig Richtige war.