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»Nein«, antwortete Raistlin und hustete leise, »es wird den Königspriester nicht flach auf den Boden werfen. Aber du hast recht mit dem Licht.«

»Ja?« Tolpan freute sich. »Ich habe es einfach vermutet! Das ist ja phantastisch! Ich muß wohl schon ganz gut sein bei diesem magischen Zeug.«

»Ja«, erwiderte Raistlin trocken. »Nun, um fortzufahren, wo ich unterbrochen wurde...«

»Entschuldige, es wird nicht wieder passieren«, unterbrach ihn Tolpan.

Raistlin funkelte ihn an. »Du mußt dich also in der Nacht in die Geweihte Kammer schleichen. Der Bereich hinter dem Altar ist durch Vorhänge abgetrennt. Versteck dich dort, damit du nicht entdeckt wirst.«

»Und dann halte ich die Umwälzung auf, gehe zu Caramon zurück und erzähle ihm alles! Ich werde ein Held sein...« Tolpan verstummte, ein plötzlicher Gedanke war ihm gekommen. »Aber wie kann ich ein Held sein, wenn ich etwas aufhalte, was niemals angefangen hat? Ich meine, wie sollen sie es erfahren, daß ich alles unternommen habe, wenn ich nicht...«

»Oh, sie werden es wissen...«, sagte Raistlin sanft.

»Ja? Aber ich verstehe noch nicht... Oh, du bist beschäftigt, vermute ich. Ich gehe wohl besser. Sag, wirst du auch aufbrechen, wenn alles hier erledigt ist?« sagte Tolpan, während Raistlins Hand, die auf seiner Schulter lag, ihn beharrlich zur Tür steuerte. »Wohin wirst du gehen?«

»Wohin ich will«, gab Raistlin zurück.

»Könnte ich mit dir kommen?« fragte Tolpan eifrig.

»Nein, du wirst in deiner eigenen Zeit benötigt«, antwortete Raistlin. »Du mußt dich um Caramon kümmern...«

»Ja, du hast wohl recht.« Der Kender seufzte. »Er braucht jemand, der sich um ihn kümmert.«

Als Tolpan zur Arena zurückkehrte, erinnerte er sich wieder daran, wie er in der Nacht vor der Umwälzung die Arena verlassen hatte. Er wußte nicht, wie heftig der Sturm geworden war, und war über die Wildheit des Windes verblüfft, der ihn buchstäblich hochhob und zurück gegen die Steinmauer der Arena schleuderte, als er sich nach draußen wagte. Nach einer Pause, in der er Atem schöpfte, rappelte sich der Kender wieder hoch und nahm den Weg zum Tempel auf, das magische Gerät fest in der Hand haltend. Schließlich erreichte er den Tempel. Er schlich sich durch den Garten und gelangte ins Innere. Kleriker liefen überall herum, versuchten, Wasser aufzuwischen und zerbrochenes Glas aufzukehren, und zündeten erloschene Fackeln wieder an.

Er hatte keine Vorstellung, wo die Geweihte Kammer sein konnte, aber es gab nichts, was er mehr genoß, als durch fremde Orte zu wandern. Zwei oder drei Stunden später geriet er zufällig in einen Raum, der Raistlins Beschreibung entsprach.

Keine Fackeln brannten in ihm, da er zur Zeit nicht gebraucht wurde, aber Blitze beleuchteten ihn für den Kender ausreichend, um den Altar und die Vorhänge zu erkennen, die Raistlin beschrieben hatte. Tolpan war ziemlich erschöpft und freute sich auf eine Pause. Nachdem er den Raum untersucht und leer gefunden hatte, ging er am Altar vorbei und sah hinter die Vorhänge, in der Hoffnung, eine Art geheime Höhle zu finden, in der der Königspriester heilige Riten vollführte, die für die Augen Sterblicher verboten waren.

Als er sich umschaute, seufzte er. Nichts. Nur eine Wand, mit Vorhängen bedeckt. Er nahm hinter den Vorhängen Platz, breitete seinen Umhang zum Trocknen aus, wrang das Wasser aus seinem Haarknoten, und mit Hilfe der Blitze begann er, die interessanten Gegenstände auszusortieren, die ihren Weg in seine Beutel gefunden hatten.

Nach einer Weile wurden seine Augen so schwer, daß er sie nicht mehr aufbehalten konnte. Er rollte sich auf dem Boden zusammen und glitt in den Schlaf, nur leicht verärgert über das Grollen des Donners. Sein letzter Gedanke war, ob Caramon ihn bereits vermißte, und wenn ja, ob er sehr wütend war...

Das nächste, was Tolpan wahrnahm, war die Ruhe. Warum ihn ausgerechnet die Ruhe aus seinem tiefen Schlaf schreckte, war ihm zuerst ein völliges Rätsel.

Dann fiel ihm der Grund ein. Der Sturm hatte sich gelegt – wie Raistlin vorausgesagt hatte. Er erhob sich und spähte zwischen den Vorhängen in die Geweihte Kammer. Durch die Fenster schien helles Sonnenlicht.

Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber nach dem Stand der Sonne mußte es kurz vor Mittag sein. Die Prozession würde bald anfangen, erinnerte er sich, und es würde eine Zeitlang dauern, bis sie sich durch den Tempel gewunden hatte. Der Königspriester wollte die Götter zur Mittwacht anrufen, wenn die Sonne den Zenit erreicht hatte.

Tatsächlich läuteten Glocken über ihm, als Tolpan darüber nachdachte. Dann hörte das Läuten wieder auf. Einen Seufzer der Erleichterung ausstoßend, spähte er wieder zwischen den Vorhängen in die Kammer und zog gerade die Möglichkeit in Betracht, daß jemand zum Saubermachen käme, als er eine dunkle Gestalt in das Zimmer gleiten sah.

Tolpan zog sich zurück. Er hielt die Vorhänge nur noch einen Spalt auf und spähte mit nur einem Auge. Die Gestalt hielt den Kopf gesenkt, ihre Schritte waren langsam und unsicher. Sie hielt kurz inne, um sich auf eine der Steinbänke zu stützen, die den Altar umgaben, als ob sie zu müde wäre weiterzugehen; dann fiel sie auf die Knie. Obgleich sie wie fast jeder im Tempel in weiße Roben gekleidet war, kam Tolpan diese Gestalt vertraut vor. Als er sich ziemlich sicher war, daß die Aufmerksamkeit der Gestalt nicht auf ihn gerichtet war, riskierte er es, den Spalt zu vergrößern.

»Crysania!« murmelte er. »Ich frage mich, warum sie so früh hier ist!« Dann wurde er von einer Enttäuschung ergriffen. »Nehmen wir mal an, sie ist auch hier, um die Umwälzung aufzuhalten... Verdammt! Raistlin hat gesagt, ich könnte es«, brummte er. Dann wurde ihm klar, daß sie redete – entweder ein Selbstgespräch oder ein Gebet. Er lauschte ihrem Gemurmel.

»Paladin, größter und weisester Gott von ewiger Güte, höre meine Stimme an diesem tragischsten aller Tage. Ich weiß, ich kann nicht aufhalten, was eintreten wird. Und vielleicht ist es ein Zeichen meines mangelnden Glaubens, daß sogar ich dein Vorhaben in Frage stelle. Ich habe nur eine einzige Bitte – hilf mir alles verstehen! Wenn es stimmt, daß ich sterben muß, laß mich den Grund wissen. Laß mich erkennen, daß mein Tod einem Zweck dient. Zeig mir, daß ich nicht völlig versagt habe bei dem, was ich hier in der Vergangenheit vollbringen wollte. Gewähre mir, daß ich hier ungesehen verweilen darf und hören kann, was kein Sterblicher jemals gehört und überlebt hat, um es weiterzugeben – die Worte des Königspriesters. Er ist ein guter Mann, vielleicht zu gut.« Crysanias Kopf sank in ihre Hände. »Mein Glaube hängt an einem Faden«, sagte sie so leise, daß Tolpan sie kaum verstehen konnte. »Zeig mir die Rechtfertigung dieser schrecklichen Tat. Wenn es dein launenhafter Einfall ist, will ich sterben, so wie es wohl beabsichtigt ist, mit denen, die vor langer Zeit ihren Glauben an die wahren Götter verloren...«

»Sag nicht, daß sie ihren Glauben verloren haben, Verehrte Tochter«, ertönte eine Stimme aus der Luft, die den Kender so erschreckte, daß er fast durch die Vorhänge fiel. »Sag lieber, daß sie ihren Glauben an die wahren Götter durch ihren Glauben an die falschen ersetzt haben – Geld, Macht, Ehrgeiz...«

Crysania hob mit einem Laut des Erschreckens den Kopf, aber es war der Anblick ihres Gesichts, nicht der der weißschimmernden Gestalt, die sich neben ihr materialisierte, der dem Kender den Atem nahm. Crysania hatte offensichtlich seit Tagen nicht mehr geschlafen, ihre Augen waren dunkel und groß und lagen eingefallen in ihrem Gesicht. Ihre Wangen waren hohl, ihre Lippen trocken und aufgesprungen. Sie hatte nicht einmal ihr Haar gekämmt, es fiel wie schwarze Spinnweben über ihr Gesicht, als sie voll Angst die geisterhafte Gestalt anstarrte. »Wer... wer bist du?« stammelte sie.

»Mein Name ist Loralon. Und ich bin gekommen, um dich mitzunehmen. Dein Tod war nicht beabsichtigt, Crysania. Du bist nun die letzte wahre Klerikerin auf Krynn, und du kannst dich zu uns gesellen, die vor vielen Tagen aufgebrochen sind.«