»Loralon, der größte Kleriker von Silvanesti«, murmelte Crysania. Lange Zeit betrachtete sie ihn, dann senkte sie den Kopf, drehte sich um, und ihre Augen blickten zum Altar. »Ich kann nicht gehen«, sagte sie entschlossen, während sie kniete. »Noch nicht. Ich muß den Königspriester hören. Ich muß verstehen...«
»Verstehst du immer noch nicht genug?« fragte Loralon streng. »Was hast du in der vergangenen Nacht in deiner Seele gespürt?«
Crysania schluckte, dann strich sie ihr Haar mit zitternder Hand zurück. »Ehrfurcht, Demut«, flüsterte sie. »Sicher müssen das alle spüren angesichts der Macht der Götter...«
»Sonst nichts?« fragte Loralon weiter. »Neid vielleicht? Der Wunsch, ihnen gleich zu sein? Auf der gleichen Ebene zu existieren?«
»Nein!« antwortete Crysania wütend, dann errötete sie und wandte das Gesicht ab.
»Komm jetzt mit mir, Crysania«, drängte Loralon. »Wahrer Glaube benötigt keine Beweise, um etwas zu glauben, von dem das Herz weiß, daß es richtig ist.«
»Die Worte meines Herzens klingen hohl in meinem Verstand«, gab Crysania zurück. »Sie sind nichts weiter als Schatten. Ich muß die Wahrheit sehen, wie sie im klaren Licht des Tages glänzt! Nein, ich werde nicht mit dir aufbrechen. Ich werde bleiben und hören, was er sagt! Ich will wissen, ob das Handeln der Götter gerechtfertigt ist!«
Loralon musterte sie mit einem Blick, der eher mitleidig als wütend war. »Du schaust nicht in das Licht, du stehst vor ihm. Der Schatten, den du vor dir siehst, ist dein eigener. Beim nächsten Mal, wenn du deutlich sehen wirst, Crysania, wirst du von der Dunkelheit blind sein, unendlicher Dunkelheit. Lebe wohl, Verehrte Tochter.«
Tolpan blinzelte und sah sich um. Der alte Elf war verschwunden! Ist er wirklich hier gewesen? fragte sich der Kender unbehaglich. Aber es mußte stimmen, denn Tolpan konnte sich noch an seine Worte erinnern. Und was hatte er gemeint? Es hörte sich alles so seltsam an. Und was hatte Crysania gemeint – zum Sterben hierhergeschickt zu sein?
Dann faßte der Kender wieder Mut. Keiner von ihnen wußte, daß die Umwälzung nicht stattfinden würde. Kein Wunder, daß Crysania sich so krank fühlte. »Sie wird wahrscheinlich wieder fröhlicher werden, wenn sie erfährt, daß die Welt nicht verwüstet wird«, sagte sich Tolpan.
Und dann hörte der Kender entfernte Stimmen sich zu einem Lied vereinen. Die Prozession! Sie begann. Tolpan jauchzte fast vor Aufregung. Dann warf er einen letzten schnellen Blick auf Crysania. Sie saß einsam und verzweifelt da, krümmte sich bei dem Klang der Musik. Durch die Entfernung verzerrt, hörte sie sich schrill an.
»Du wirst dich schon bald besser fühlen«, tröstete Tolpan sie stumm, dann kauerte er sich wieder hinter den Vorhang, um das wundervolle magische Gerät aus seinem Beutel zu holen. Er setzte sich hin, hielt das Gerät in seinen Händen und wartete.
Die Prozession dauerte ewig. Der Kender gähnte. Er hätte gern mit dem magischen Gerät gespielt, aber Raistlin hatte ihm eingeprägt, es in Ruhe zu lassen, bis die Zeit gekommen war, und dann die Anweisungen zu befolgen. Tolpan saß da, hielt das magische Gerät fest und hatte fast Angst, sich zu bewegen.
Als er gerade aufgeben wollte, hörte er wunderschöne Stimmen erschallen. Glänzendes Licht quoll durch die Vorhänge. Der Kender rang mit seiner Neugierde, aber schließlich konnte er nicht widerstehen, wenigstens einen kleinen Blick zu riskieren. Er hatte schließlich noch nie den Königspriester gesehen. Er sagte sich, daß er sehen mußte, was vor sich ging, und spähte wieder durch den Spalt zwischen den Vorhängen.
Das Licht blendete ihn fast.
»Großer Reorx!« murmelte der Kender und bedeckte die Augen mit den Händen. Er erinnerte sich, als Kind einmal in die Sonne geschaut zu haben, um herauszufinden, ob sie wirklich eine riesige goldene Münze war, und wenn ja, wie er sie vom Himmel holen könnte. Danach war er gezwungen gewesen, drei Tage mit kalten Umschlägen um seine Augen im Bett zu verbringen.
»Ich frage mich, wie er das anstellt«, murmelte Tolpan und wagte es wieder, durch seine Finger zu spähen. Er starrte in das Innere des Lichtes, so wie er damals in die Sonne gestarrt hatte. Und er sah die Wahrheit. Die Sonne war keine goldene Münze. Der Königspriester war lediglich ein Mann.
Der Kender erlebte nicht den schrecklichen Schock wie Crysania, als sie hinter der Illusion den wirklichen Mann erblickt hatte. Er war überrascht – und enttäuscht. Ich habe diese ganze Plackerei für nichts auf mich genommen, dachte er verärgert. Es wird keine Umwälzung geben. Ich glaube nicht, daß mich dieser Mann wütend genug machen könnte, um eine Pastete auf ihn zu werfen, geschweige denn ein ganzes feuriges Gebirge.
Aber Tolpan hatte nichts anderes zu tun, und so beschloß er, in der Nähe zu bleiben, zu beobachten und zu lauschen. Immerhin würde etwas passieren. Er versuchte, Crysania ausfindig zu machen, fragte sich, wie sie wohl darüber dachte, aber der Heiligenschein, der den Königspriester umgab, war so hell, daß er sonst nichts im Raum erkennen konnte.
Der Königspriester ging mit andächtigen Schritten zum Altar, seine Augen bewegten sich blitzschnell nach links und rechts. Tolpan fragte sich, ob der Königspriester Crysania sehen konnte, aber offensichtlich war er von seinem eigenen Licht geblendet, denn seine Augen gingen über sie hinweg. Als er den Altar erreichte, kniete er sich nicht zum Gebet nieder, so wie Crysania es getan hatte. Tolpan hatte den Eindruck, daß er es gerade tun wollte, aber dann schüttelte er wütend den Kopf und blieb stehen.
Tolpan, der sich hinter dem Altar und leicht zu seiner Linken befand, hatte eine hervorragende Aussicht auf das Gesicht des Mannes. Wieder ergriff der Kender vor Aufregung das magische Gerät. Denn der Blick reinen Entsetzens in den wäßrigen Augen des Königspriesters wurde von einer arroganten Maske verdeckt.
»Paladin«, trompetete der Königspriester, und Tolpan hatte den entschiedenen Eindruck, daß der Mann zu einem Handlanger sprach. »Paladin, du siehst das Böse, das mich umgibt! Du warst Zeuge der Katastrophen in den vergangenen Tagen. Du weißt, daß das Böse gegen mich gerichtet ist, gegen mich persönlich, weil ich der einzige bin, der es bekämpft! Auf jeden Fall mußt du zugeben, daß diese Lehre vom Gleichgewicht nicht funktioniert!« Die Stimme des Königspriesters verlor den barschen Ton, wurde sanft wie eine Flöte. »Natürlich verstehe ich. Du mußtest diese Lehre in den alten Zeiten vertreten, als du schwach warst. Aber du verfügst jetzt über mich, deinen rechten Arm, deinen wahren Vertreter auf Krynn. Mit unserer gemeinsamen Macht kann ich das Böse beseitigen! Zerstöre die Ogerrassen! Bring die widerspenstigen Menschen unter deine Herrschaft! Finde eine neue, weitentfernte Heimat für die Zwerge und Kender und Gnome, diese Rassen, die nicht deiner Schöpfung entstammen...«
Wie beleidigend, dachte Tolpan aufgebracht. Ich wünsche fast, daß sie einen Berg auf ihn schmeißen!
»Und ich werde in Glanz herrschen«, die Stimme des Königspriesters schwoll an, »und ein Zeitalter schaffen, das sogar mit dem sagenumwobenen Zeitalter der Träume rivalisieren kann!« Der Königspriester breitete die Arme aus. »Du hast dies und noch viel mehr Huma gewährt, Paladin, der nichts weiter war als ein abtrünniger Ritter von niedriger Geburt! Ich verlange, daß auch du mir die Macht gewährst, die Schatten des Bösen zu vertreiben, die dieses Land in Dunkelheit hüllen!«
Er verstummte und wartete mit ausgebreiteten Armen.
Tolpan hielt den Atem an, wartete ebenfalls und umklammerte das magische Gerät in seinen Händen. Und dann spürte der Kender die Antwort. Ein Entsetzen kroch in ihm hoch, eine Angst, die er nie zuvor empfunden hatte, nicht einmal vor Soth oder im Eichenwald von Shoikan. Zitternd sank der Kender auf die Knie und neigte den Kopf, wimmerte und schüttelte sich, bat irgendeine unsichtbare Macht um Gnade, um Vergebung. Hinter dem Vorhang konnte er das Echo seines eigenen zusammenhanglosen Gemurmels hören, und er wußte, Crysania war da, und auch sie spürte den heißen Zorn, der über ihn wie der Donner des Sturmes rollte.