Langsam pirschten die zwei aufeinander zu, umkreisten sich immer wieder. Caramon hörte nicht länger das wilde Stampfen, Pfeifen und Jubeln der erregten Menge angesichts des echten Blutes. Er dachte nicht mehr an Flucht, er hatte nicht einmal eine Ahnung, wo er sich befand. Seine Kriegerinstinkte hatten die Herrschaft übernommen. Er wußte nur eins. Er mußte töten.
Und so wartete er. Pheragas hatte ihn gelehrt, daß Minotaurier einem großen Irrtum unterlagen. Da sie sich allen anderen Rassen überlegen fühlten, unterschätzten sie im allgemeinen ihren Gegner. Und wenn man abwartete, machten sie Fehler. Der Minotaurus bildete keine Ausnahme. Seine Gedanken wanren Caramon klar ersichtlich – Schmerz und Wut, Zorn über die Beleidigung und die Gier, das Leben dieses dummen erbärmlichen Menschen zu beenden.
Die zwei kamen immer näher zu der Stelle, wo Kiiri in eine wilde Schlacht mit Raag verwickelt war, wie Caramon dem Knurren und Kreischen des Ogers entnehmen konnte. Plötzlich rutschte Caramon in einer Pfütze gelben schleimigen Blutes aus. Der Minotaurus heulte vor Freude auf und sprang vor, um Caramon mit dem Dreizack aufzuspießen.
Aber das Ausrutschen war nur gespielt gewesen. Caramons Schwert blitzte im Sonnenlicht auf. Der Minotaurus erkannte, daß er genarrt worden war. Aber er hatte sein verletztes Knie vergessen. Es konnte sein Gewicht nicht tragen, und er stürzte zu Boden. Caramons Schwert schnitt in den Tierkopf.
Als Caramon sein Schwert herausriß, hörte er ein entsetzliches Knurren hinter sich, drehte sich rechtzeitig um und sah, wie sich der riesige Kiefer der Bärin in Raags breiten Nacken grub. Kiiri biß tief in die Drosselvene. Der Mund des Ogers öffnete sich weit zu einem Schrei, den er niemals ausstoßen sollte.
Caramon hastete auf sie zu, als er zu seiner Rechten eine Bewegung wahrnahm. Er drehte sich schnell um, und Arak schoß an ihm vorbei. Das Gesicht des Zwergs war eine häßliche Maske der Trauer und der Wut. Caramon sah den Dolch in der Hand des Zwergs aufblitzen und eilte nach vorn, aber es war zu spät. Er konnte die Klinge nicht mehr aufhalten, die in die Brust der Bärin stieß. Rotes, warmes Blut spritzte über die Hand des Zwergs. Die riesige Bärin brüllte vor Schmerz und Zorn auf. Mit ihrer letzten zuckenden Kraft ergriff sie den Zwerg, hob ihn hoch und schleuderte ihn über die Arena. Der Körper des Zwergs prallte gegen den Freiheitsturm, an dem der Goldene Schlüssel hing, und wurde an einem der verzierten Vorsprünge aufgespießt. Der Zwerg gab ein furchterregendes Kreischen von sich, dann stürzte er in die flammenden Gruben.
Kiiri fiel zu Boden, Blut strömte aus der klaffenden Wunde in ihrer Brust. Die Menge schrie Caramons Namen. Der große Mann hörte es nicht. Er beugte sich hinunter und nahm Kiiri in seine Arme. Der Zauber löste sich auf. Die Bärin war verschwunden, und er hielt Kiiri an seiner Brust.
»Du hast gewonnen, Kiiri«, flüsterte Caramon. »Du bist frei.«
Kiiri sah zu ihm auf und lächelte. Dann weiteten sich ihre Augen, das Leben verschwand aus ihnen. Ihr Blick blieb zum Himmel gerichtet, fast erwartungsvoll, als ob sie wüßte, was nun geschehen würde.
Behutsam legte er ihren Körper auf den blutdurchtränkten Boden und erhob sich. Er sah Pheragas’ Körper in qualvollen Todeskrämpfen erstarren. »Dafür wirst du büßen, mein Bruder«, flüsterte er.
Hinter seinem Rücken hörte er ein vielstimmiges Murmeln. Grimmig drehte sich Caramon um, bereit, dem nächsten Feind gegenüberzutreten. Aber es war kein Feind, es waren die anderen Gladiatoren. Beim Anblick von Caramons blutbeflecktem Gesicht traten sie nacheinander zur Seite, um ihm den Weg freizumachen.
Als Caramon sie musterte, begriff er, daß er endlich frei war. Frei, seinen Bruder zu finden, frei, diesem Bösen für immer ein Ende zu bereiten. Seine Seele schwang sich empor. Der Tod machte ihm keine Angst mehr.
Nach Rache lechzend, lief Caramon zum Rand der Arena, bereit, die Stufen hinabzugehen, die zu dem unterirdischen Korridor führten, als das erste der Erdbeben die dem Untergang geweihte Stadt Istar erschütterte.
18
Crysania sah und hörte Tolpan nicht. Ihr Geist war geblendet von den unzähligen Farben, die in seinen Tiefen wirbelten, wie herrliche Juwelen funkelten, denn plötzlich begriff sie. Paladin hatte sie nicht in die Vergangenheit geschickt, damit sie das Andenken des Königspriesters rette, sondern um aus seinen Fehlern zu lernen. Und sie wußte, daß sie gelernt hatte. Sie konnte die Götter anrufen, und sie würden ihr antworten, nicht mit Zorn, sondern mit Kraft! Die kalte Dunkelheit in ihr brach auf, und die befreite Kreatur sprang aus ihrer Schale, platzte ins Sonnenlicht.
In einer Vision sah sie sich – eine Hand hielt das Medaillon von Paladin hoch, das Platin blitzte in der Sonne. Mit der anderen Hand rief sie Legionen von Gläubigen herbei, die mit entzücktem Gesichtsausdruck um sie schwärmten, während sie die Scharen in wunderschöne, jenseits der Vorstellungskraft liegende Länder führte.
Sie besaß noch nicht den Schlüssel, um die Tür aufzuschlienßen, das wußte sie. Und hier konnte es auch nicht passieren, denn der Zorn der Götter war zu gewaltig. Aber wo sollte sie den Schlüssel, wo die Tür finden? Die tanzenden Farben machten sie schwindelig, sie konnte weder sehen noch denken. Und dann hörte sie eine Stimme, eine leise Stimme, und sie spürte Hände ihre Roben berühren. »Raistlin...«, hörte sie die Stimme sagen, der Rest der Worte ging verloren. Aber plötzlich klärte sich ihr Geist. Die Farben verschwanden, so wie das Licht, und ließen sie allein in der Dunkelheit, die nun für ihre Seele beruhigend und tröstend war.
»Raistlin«, murmelte sie. »Er hat versucht, es mir zu sagen...«
Die Hände berührten sie immer noch, und sie schob sie beiseite. Raistlin würde sie mit zum Portal nehmen, er würde ihr helfen, den Schlüssel zu finden. Elistan hatte gesagt, daß sich das Böse gegen sich selbst richte. Raistlin würde ihr also wider Willen helfen. Crysanias Seele sang eine frohe Hymne an Paladin. Wenn ich in meiner Pracht zurückkehre, wenn all das Böse auf der Welt besiegt ist, dann wird Raistlin meine Macht sehen, er wird allmählich begreifen und glauben.
»Crysania!«
Der Boden unter Crysanias Füßen erbebte, aber sie bemerkte es nicht. Sie hörte eine Stimme ihren Namen rufen, eine sanfte Stimme, gebrochen von Hustenanfällen.
»Crysania.« Wieder ertönte sie. »Beeil dich!«
Raistlins Stimme! Crysania blickte sich verstört um, sah aber niemanden. Und dann erkannte sie, daß er zu ihrem Geist sprach, sie führte. »Raistlin«, murmelte sie. »Ich höre dich, ich komme.« Sie wandte sich um und lief in den Korridor hinaus, in den Tempel. Der Ruf des Kenders stieß auf taube Ohren.
»Raistlin?« fragte Tolpan verwirrt. Dann begriff er. Crysania wollte zu Raistlin! Auf irgendeine magische Weise hatte er sie gerufen, und sie war nun dabei, ihn zu finden! Tolpan schoß hinter Crysania hinaus in den Korridor. Sicherlich konnte sie Raistlin dazu bringen, das Gerät zu reparieren...
Im Korridor sah Tolpan in beide Richtungen und entdeckte Crysania sofort. Aber sie lief so schnell, daß sie schon fast das Ende des Korridors erreicht hatte.
Er überzeugte sich noch einmal, daß die zerbrochenen Teile des magischen Geräts in seinem Beutel waren, dann rannte er Crysania nach. Aber gleich darauf verschwand sie um eine Ecke.
Der Kender lief, wie er noch nie gelaufen war. Sein Haarknoten flatterte, seine Beutel sprangen heftig auf und ab, verloren ihren Inhalt, ließen eine glitzernde Spur von Ringen, Armbändern und Nippsachen zurück.
Den Beutel mit dem magischen Gerät fest im Griff, erreichte Tolpan das Ende des Korridors und bog um die Kurve. In seiner Hast prallte er auf die gegenüberliegende Wand.
Der Korridor wimmelte von Klerikern, alle in weiße Roben gekleidet. Wie sollte er Crysania ausfindig machen! Dann erspähte er sie, ungefähr in der Mitte des Korridors, ihr schwarzes Haar glänzte im Fackellicht. Er sah auch, daß Kleriker ihr nachschrien oder finstere Blicke zuwarfen, während sie vorbeilief.