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Raistlin sagte nichts und rührte sich nicht. Er stand ruhig am Schreibtisch; seine schlanke Hand lag auf dem Zauberbuch.

Crysania bewegte sich nicht. Sie hörte die Worte, aber sie hatten keine Bedeutung für sie. Sie konnte nur sich selbst sehen, wie sie in der Hand das glänzende Licht trug und das Volk anführte. Der Schlüssel... Das Portal... Sie sah Raistlin den Schlüssel in der Hand halten, er winkte sie zu sich. Wieder spürte sie die Berührung von Raistlins Lippen, die auf ihrer Stirn brannten.

Ein Licht flackerte auf und erstarb. Loralon war verschwunden.

»Ich kann nicht«, versuchte Crysania zu sagen, aber sie brachte keinen Ton hervor. Es war auch nicht notwendig.

Caramon begriff. Er sah sie lang an, dann seufzte er. »Dann soll es so sein«, sagte er kühl, als auch er in den silbernen Kreis trat. »Noch ein Tod wird uns nicht weiter stören, nicht wahr, mein Bruder?«

Crysania starrte fasziniert auf das blutbeschmierte Schwert, das im Licht des Stabes glänzte. Lebhaft stellte sie sich vor, wie es sich durch ihren Körper bohrte, und als sie in Caramons Augen sah, erkannte sie, daß er sich das Gleiche vorgestellt hatte und daß es ihn nicht abschreckte. Sie war nichts für ihn, bloß ein Hindernis, das ihn von seinem eigentlichen Ziel abhielt, seinem Bruder.

Welch entsetzlicher Haß, dachte Crysania, und als sie tief in Caramons Augen sah, die den ihren jetzt so nah waren, hatte sie eine plötzliche Einsicht – welch entsetzliche Liebe!

Caramon sprang mit ausgestreckter Hand auf sie zu, wollte sie ergreifen und zur Seite schleudern. In ihrer Panik wich Crysania seinem Griff aus und stolperte nach hinten gegen Raistlin. Caramons Hand erfaßte einen Ärmel ihrer Robe und riß ihn entzwei. In seiner Wut warf er den weißen Stoff auf den Boden, und jetzt wußte Crysania, daß sie sterben würde. Immer noch stand sie zwischen ihm und seinem Bruder.

Caramons Schwert blitzte auf.

In ihrer Verzweiflung umklammerte Crysania das Medaillon von Paladin, das um ihren Hals hing. »Halt!« schrie sie und schloß vor Angst die Augen. Ihr Körper zuckte zusammen, wartete auf den schrecklichen Schmerz, wenn der Stahl sich durch ihr Fleisch schneiden würde. Dann hörte sie ein Stöhnen und das Klirren eines Schwertes, das zu Boden fiel. Erleichterung strömte durch ihren Körper, ließ sie kraftlos werden.

Aber schlanke Hände fingen sie auf und hielten sie fest, Arme umschlossen sie, eine sanfte Stimme sagte triumphierend ihren Namen. Crysania war in warme Schwärze eingehüllt, ertrank in warmer Schwärze. Und in ihrem Ohr hörte sie ein Flüstern in der seltsamen Sprache der Magie.

Wie liebkosende Hände krochen Raistlins Worte über ihren Körper. Silbernes Licht flackerte auf, verschwand wieder. Der Griff von Raistlins Armen um Crysania wurde in Ekstase fester, und sie wirbelte umher, gefangen in dieser Ekstase, wirbelte mit ihm fort in die Schwärze.

Sie legte die Arme um ihn, schmiegte den Kopf an seine Brust und ließ sich in die Dunkelheit sinken. Als sie fiel, vermischten sich die Worte der Magie mit dem Gesang ihres Blutes und dem Gesang der Steine im Tempel...

Aber durch all dies drang ein unharmonischer Ton – ein rauhes, herzzerreißendes Stöhnen.

Tolpan Barfuß hörte die Steine singen, und er lächelte verträumt. Plötzlich erwachte er. Er lag auf einem kalten Steinboden, der mit Staub und Schutt bedeckt war. Der Boden unter ihm begann wieder zu beben. Tolpan wußte aufgrund des seltsamen Gefühls der Angst, das sich in seinem Inneren erhob, daß die Götter es dieses Mal ernst meinten. Dieses Mal würde das Erdbeben nicht aufhören. »Crysania! Caramon!« schrie er, aber er hörte nur das Echo seiner schrillen Stimme, die hohl gegen die zitternden Wände prallte.

Sich aufrappelnd, den Schmerz in seinem Kopf unterdrückend, sah Tolpan die Fackel immer noch über der dunklen Türöffnung leuchten, durch die Crysania getreten war; sie war der scheinbar einzige Teil des ganzen Gebäudes, der von dem krampfhaften Sichheben des Bodens unberührt geblieben war. Tolpan ging hinein und erkannte Zauberutensilien wieder. Er suchte nach Lebenszeichen, aber alles, was er sah, waren die entsetzlichen eingesperrten Kreaturen, die sich gegen ihre Zellentüren warfen, die wußten, daß das Ende ihrer qualvollen Existenz nahte, und dennoch nicht gewillt waren, das Leben aufzugeben, auch wenn es noch so schmerzhaft war.

Tolpan starrte verstört um sich. Wo waren alle hingegangen? »Caramon?« fragte er mit leiser Stimme. Aber es kam keine Antwort, nur ein entferntes Rumoren, als das Beben des Bodens schlimmer wurde. Dann erhaschte Tolpan im düsteren Schein der Fackel einen Blick auf etwas Metallisches, das auf dem Boden neben dem Schreibtisch glänzte. Er stolperte durch das Zimmer.

Seine Hand schloß sich um den goldenen Knauf des Schwertes eines Gladiators. Er lehnte sich gegen den Schreibtisch und starrte auf die silberne, mit schwarzem Blut befleckte Klinge. Dann hob er noch etwas auf, das neben dem Schwert auf dem Boden lag, einen Fetzen weißen Stoffes. Er sah goldene Stickereien, das Symbol Paladins darstellend, im Fackellicht undeutlich glänzen. Auf dem Boden war mit Puder ein Kreis gezeichnet, Puder, der einst silbern gewesen sein konnte, aber jetzt schwarzverbrannt war.

»Sie sind gegangen«, sagte Tolpan leise zu den gefangenen Kreaturen. »Sie sind gegangen... Ich bin allein.«

Ein plötzliches Schaukeln des Bodens ließ den Kender zu Boden stürzen. Ein Krachen ertönte, so laut, daß er fast taub wurde. Als er zur Decke blickte, riß sie weit auf. Der Stein zersprang. Die Grundmauern des Tempels teilten sich. Und dann stürzte der ganze Tempel zusammen. Die Mauern flogen auseinander. Der Boden brach auf.

Unfähig, sich zu bewegen, beschützt von einem mächtigen Zauber, stand Tolpan im Laboratorium von Fistandantilus und sah zum Himmel empor.

Und er sah, wie vom Himmel Feuer regnete.