Und ihm wurde Vergebung gewährt. Die melodische Stimme ertönte wieder, und Denubis war sofort von einem Gefühl des Friedens und der Ruhe erfüllt. Er erhob sich, trat dem Königspriester in ehrfürchtiger Bescheidenheit gegenüber und bat zu erfahren, wie er ihm dienen könnte.
»Du brachtest heute morgen eine junge Frau, eine Verehrte Tochter Paladins, in den Tempel«, sagte die Stimme, »und wir verstehen, daß du besorgst um sie bist – was nur natürlich ist. Wir dachten, es würde dich beruhigen zu erfahren, daß es ihr gut geht und sie sich von ihren Qualen völlig erholt hat. Es dürfte dich auch erleichtern, Denubis, geliebter Sohn Paladins, zu wissen, daß sie körperlich unversehrt war.«
Denubis dankte Paladin für die Genesung der jungen Frau und bereitete sich gerade vor, zurückzutreten und sich einige Augenblicke in dem prachtvollen Licht aufzuhalten, als er die ganze Tragweite der Worte des Königspriesters erfaßte. »Sie... sie wurde nicht angegriffen?« stammelte er.
»Nein, mein Sohn«, erscholl die Stimme. »Paladin hatte in seiner unendlichen Weisheit ihre Seele zu sich genommen, und ich konnte ihn in vielen langen Stunden des Gebets bewegen, uns diesen Schatz zurückzugeben, da sie verfrüht aus ihrem Körper gerissen wurde. Die junge Frau findet nun Ruhe in einem lebenspendenden Schlaf.«
»Aber die Male an ihrem Gesicht?« erhob Denubis verwirrt Einspruch. »Das Blut...«
»Es gab keine Male...«, unterbrach ihn der Königspriester mild, aber mit einer Spur von Tadel. »Ich sagte dir, sie war körperlich unversehrt.«
»Ich bin erfreut, daß ich mich geirrt habe«, antwortete Denubis aufrichtig. »Um so mehr, als es bedeutet, daß der verhaftete Mann unschuldig ist, wie er behauptet hat, und jetzt freigelassen werden kann.«
»Ich bin dankbar, Verehrter Sohn, zu wissen, daß kein menschliches Wesen ein so furchtbares Verbrechen begangen hat, wie anfangs befürchtet wurde. Doch wer unter uns ist wirklich unschuldig?«
Die melodische Stimme hielt inne und schien auf eine Antwort zu warten. Und die Antworten kamen. Der Kleriker hörte murmelnde Stimmen die richtige Antwort geben, und Denubis wurde sich zum ersten Mal bewußt, daß sich neben dem Thron noch andere Personen befanden. So stark war der Einfluß des Königspriesters, daß Denubis überzeugt gewesen war, mit dem Mann allein zu sein.
Denubis murmelte mit den anderen die Antwort auf diese Frage und wußte plötzlich, ohne daß man es ihm gesagt hatte, daß er aus der erhabenen Gegenwart des Königspriesters entlassen war. Das Licht strahlte nicht mehr auf ihn, sondern hatte sich einem anderen zugewandt. Er hatte das Gefühl, aus der hellen Sonne in den Schatten getreten zu sein, und taumelte halbblind zu den Stühlen. Hier war er in der Lage, Atem zu holen, sich zu entspannen und sich umzuschauen.
Der Königspriester, von Licht umgeben, saß an einem Ende. Die Gestalten um ihn waren die Oberhäupter der verschiedenen Orden – die Verehrten Söhne und Verehrten Töchter. Als die »Hände und Füße der Sonne« bezeichnet, waren sie es, die sich um die alltäglichen Angelegenheiten der Kirche kümmerten. Sie waren es, die über Krynn herrschten. Aber außer den hohen Kirchenbeamten waren hier auch noch andere vertreten. Denubis’ Blick wurde in eine Ecke des Saales gezogen, die einzige Ecke, so schien es, die in Schatten getaucht war.
Dort saß eine schwarzgekleidete Gestalt.
Die Erkenntnis, daß dem Schwarzen, wie Fistandantilus am Hof genannt wurde, der Eintritt in die Empfangshalle des Königspriesters erlaubt war, traf Denubis wie ein Schock. Der Königspriester versuchte, die Welt vom Bösen zu befreien, dennoch weilte es hier – an seinem Hof! Und dann hatte Denubis einen tröstenden Gedanken: Wenn die Welt von dem Bösen völlig befreit war, wenn der letzte Menschenfresser ausgelöscht war, dann würde Fistandantilus wohl auch stürzen.
Aber noch während er dies dachte und darüber lächelte, sah Denubis, wie sich die glitzernden Augen des Magiers auf ihn richteten. Denubis erzitterte und sah eilig weg. Was für ein Gegensatz bestand zwischen diesem Mann und dem Königspriester! Wenn Denubis sich im Licht des Königspriesters sonnte, fühlte er sich von Ruhe und Frieden erfüllt. Wenn er jedoch in die Augen von Fistandantilus sah, wurde er zwangsläufig an seine eigene Dunkelheit erinnert.
Und unter dem Blick dieser Augen fragte er sich plötzlich, was der Königspriester mit der seltsamen Bemerkung: »Wer von uns ist wirklich unschuldig?« gemeint haben konnte.
Mit einem unbehaglichen Gefühl ging Denubis in die Vorkammer, wo ein gigantischer Bankettisch stand.
Der Duft köstlicher exotischer Speisen, von frommen Pilgern aus ganz Ansalon herbeigebracht oder auf den großen, weit entfernten Stadtmärkten wie Xak Tsaroth gekauft, erinnerte Denubis daran, daß er seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte. Er nahm sich einen Teller, betrachtete das herrliche Essen und wählte Verschiedenes aus, bis sein Teller gefüllt war.
Ein Diener brachte runde Becher mit wohlriechendem Elfenwein. Er nahm sich einen Becher, und mit dem Teller in der einen Hand und dem Becher in der anderen jonglierend, sank er auf einen Stuhl und begann herzhaft zu essen. Er genoß gerade die himmlische Kombination von einem Mundvoll gebratenen Fasans und dem nachklingenden Geschmack des Elfenweins, als ein Schatten auf seinen Teller fiel.
Denubis sah auf, würgte und schlang den Rest Fasan hinunter, tupfte den Wein ab, den er in seiner Verlegenheit über sein Kinn gegossen hatte.
»V...Verehrter Sohn«, stotterte er und machte einen schwachen Versuch, sich in einer respektvollen Geste zu erheben, die das Oberhaupt der Bruderschaft verdiente.
Quarat musterte ihn mit sardonischem Vergnügen und winkte träge mit einer Hand ab. »Bitte, Verehrter Sohn, laß dich nicht von mir stören. Ich habe nicht die Absicht, dich beim Abendessen zu unterbrechen. Ich wollte mich nur mit dir unterhalten. Vielleicht wenn du fertig bist...«
»Fast... fast fertig«, unterbrach Denubis hastig und überreichte seinen halbvollen Teller und das Glas einem vorbeigehenden Diener. »Ich bin wohl nicht so hungrig, wie ich dachte.« Das war zumindest wahr. Ihm war der Appetit völlig vergangen.
Quarat lächelte zart. Sein schmales Elfengesicht mit den feingeschnittenen Zügen schien aus zerbrechlichem Porzellan zu bestehen. »Dann komm mit mir, Verehrter Sohn. Es ist schon lange her, seitdem wir uns unterhalten haben.« Er nahm Denubis’ Arm mit einer lässigen Vertrautheit – obgleich es Monate her war, daß der Kleriker seinen Vorgesetzten zum letzten Mal gesehen hatte.
Zuerst der Königspriester, jetzt Quarat. Denubis spürte einen kalten Klumpen im Magen. Als Quarat ihn aus dem Empfangssaal führte, erhob sich die melodische Stimme des Königspriesters. Denubis warf einen Blick zurück und sonnte sich noch einen Augenblick in diesem wundersamen Licht. Als er sich dann mit einem Seufzer umdrehte, blieb sein Blick auf dem schwarzgekleideten Magier ruhen. Fistandantilus lächelte und nickte. Schaudernd begleitete Denubis Quarat eilig aus der Tür.
Die zwei Kleriker gingen durch prächtig dekorierte Korridore, bis sie eine kleine Kammer erreichten, Quarats Kammer. Auch sie war im Inneren prächtig geschmückt.
»Nimm bitte Platz, Denubis. Ich darf dich ruhig so nennen, da wir nun ganz gemütlich unter uns sind.«
Denubis wußte nicht, ob es gemütlich war, aber sicherlich waren sie unter sich. Er saß auf dem Rand eines Stuhls, den Quarat ihm angeboten hatte, nahm ein kleines Glas Likör an, das er aber nicht trank, und wartete. Quarat sprach kurz über Nichtigkeiten, fragte Denubis nach seiner Arbeit – er übersetzte Passagen der Scheiben der Mishakal in seine eigene Sprache Solamnisch – und erwähnte andere Themen, an denen er offensichtlich keineswegs interessiert war.
Nach einer Pause sagte Quarat beiläufig: »Ich konnte nicht umhin zu hören, daß du den Königspriester in Frage gestellt hast.«