»Gut. Sag ihnen, sie sollen so oft wie möglich zu ihm gehen und ihn aufmuntern. Ich will nicht, dass er in Kummer versinkt.«
»Wellcott möchte wissen, ob er Jackons altes Zimmer im Gesindeflügel herrichten soll.«
»Der Junge bleibt vorerst in meinen Gemächern. Wenn er genesen ist, bekommt er eine Kammer im Südflügel.«
Dort befanden sich die Unterkünfte von Umbra, Corvas und Amander. »Also soll er nicht mehr im Garten arbeiten?«
»Nein, das ist nicht mehr nötig. Ich werde ihn bald offiziell zu meinem Leibwächter ernennen. Er muss seine Kräfte nicht länger verstecken.«
»Er hat große Angst vor Aziel«, bemerkte Umbra.
»Nicht ganz zu Unrecht, oder?«
»Ich frage mich nur, ob es klug war, ihn deswegen zu beunruhigen. Er braucht jetzt Ruhe.«
Unmut flackerte in Lady Sarkas Augen auf, wie immer, wenn man ihre Entscheidungen infrage stellte. »Aziel ist sein Feind. Je eher er das begreift, desto besser.«
»Aziel ist so gut wie besiegt.«
»In der Wachwelt vielleicht. In den Traumlanden ist seine Macht nach wie vor groß. Jackon täte also gut daran, bald seine Ausbildung fortzusetzen.«
»Hat das nicht Zeit, bis er sich erholt hat?« »Was macht der Junge gerade den ganzen Tag?«, erwiderte Lady Sarka barsch. »Er schläft von morgens bis abends. Da kann er genauso gut an seinen Fähigkeiten arbeiten.«
Umbra war anderer Meinung, aber sie wusste, wann es klüger war, ihre Ansichten für sich zu behalten.
»Sag mir lieber, wo dieser Alchymist bleibt – Silas Torne«, fuhr die Herrin fort. »Ich warte seit Tagen auf ihn.«
»Er ist nach dem Unfall in seinem Haus spurlos verschwunden. Corvas hat seine Krähen nach ihm ausgesandt. Er wollte mir Bescheid geben, wenn sie ihn gefunden haben.«
»Er soll sich gefälligst beeilen. Ich will Torne spätestens morgen sehen. Sag ihm das.« Lady Sarka wandte sich ab und schritt mit knisternden Gewändern die Treppe zur Galerie hinauf.
Zu Befehl, dachte Umbra missmutig. Sie verließ den Kuppelsaal nur zu gern. Seit dem Angriff auf den Palast war die Herrin in einer gefährlichen Stimmung, und Umbra zog es vor, ihr aus dem Weg zu gehen.
Sie durchquerte die Eingangshalle und stieg eine enge Wendeltreppe hinauf. Im Gegensatz zum Erdgeschoss, wo der Angriff überall Spuren der Zerstörung hinterlassen hatte, waren die oberen Stockwerke unversehrt. Ihr Weg führte sie durch verlassene Korridore und Gemächer, durch alte Labore und verstaubte Dachkammern voller Gerümpel, bis sie kurz darauf eine eisenverstärkte Tür öffnete.
Ohrenbetäubendes Gekrächze empfing sie im Krähenturm. Corvas stand auf der steinernen Kanzel und lauschte den Rabenvögeln, die auf seinen ausgebreiteten Armen saßen oder ihn flatternd umkreisten.
Umbras Miene verfinsterte sich. Sie konnte Corvas’ Vögel nicht leiden. Dieser Gestank, dieser Lärm... wie ertrug er das nur?
Der Bleiche bemerkte sie und kam die Treppe herunter. Die Krähen stoben auf und ließen sich schimpfend auf Fenstersimsen und Dachbalken nieder.
»Wieso störst du mich?«, fragte er mit seiner tonlosen Stimme. »Du siehst doch, ich habe zu tun.«
»Die Herrin wird allmählich ungeduldig. Ich soll dir ausrichten, dass sie Torne sehen will. Spätestens morgen.«
»Gut. Meine Krähen haben ihn aufgespürt.«
»Wann?«
»Vor zwei Tagen.«
»Vor zwei Tagen?«, wiederholte Umbra gereizt. »Und das sagst du mir erst jetzt?«
»Ich muss dich wohl nicht daran erinnern, dass es seit Aziels Angriff Wichtigeres zu tun gab«, erwiderte der Bleiche.
Sie verzog den Mund. »Wo steckt der Kerl?«
»Er ist in der Grambeuge untergetaucht.«
»Geht es ein bisschen genauer?«
»Im Rattennest. Mama Ogda gewährt ihm Unterschlupf.«
Umbras Herz schien einen Schlag auszusetzen. »Dort? Bist du sicher?«
»Natürlich. Meine Krähen irren sich nie.«
»Und wann hattest du vor, mit ihm zu sprechen?«
»Gar nicht. Du wirst zu Torne gehen. Ich werde im Ministerium erwartet.«
»Was? Ich werde nicht gehen. Du weißt ganz genau, dass...« Corvas verwandelte sich in eine Krähe und flog aus dem Fenster.
»Komm zurück! Verdammter Bastard!«
Die Vögel auf den Simsen krächzten spöttisch. Umbra verließ den Turm, warf die Tür ins Schloss und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Holz.
Das Rattennest. Es gab so viele Orte in Bradost, wo man untertauchen konnte. Wieso musste sich Torne ausgerechnet im einzigen Viertel verkriechen, das sie nie wieder betreten wollte?
6
Verdammte Seelen
Dunkelheit. Und wispernde Stimmen.
Vivana hörte sie flüstern, während sie durch das Tor glitt. Manche warnten sie, andere drohten ihr oder machten sich über sie lustig. Lasst mich in Ruhe!, wollte sie rufen, doch etwas geriet ihr in den Mund und ließ sie vor Ekel würgen.
Und dann die Gefühle...
Von allen Seiten strömten sie auf sie ein. Hass. Neid. Mordlust. Habgier. Anfangs gelang es ihr, sich davor zu schützen, indem sie die Zähne zusammenbiss und sich sagte: Sie sind nicht real. Sie können mir nichts anhaben. Doch bald schon wurden die fremden Empfindungen so intensiv, dass Vivana sie nicht mehr von ihren eigenen unterscheiden konnte. Wie ein Seziermesser durchbohrte die böse Energie Schicht für Schicht ihrer Persönlichkeit und drang bis in den Kern ihrer Seele.
Vivana bekam keine Luft mehr.
Verzweifelt ruderte sie mit den Armen. Als sie glaubte, sie müsse ersticken, wich die Finsternis plötzlich gleißender Helligkeit, und sie fiel. Der Aufprall war hart und schmerzhaft. Sie rollte über felsigen Boden, stieß gegen ein Hindernis und blieb liegen. Keuchend rang sie um Atem.
Irgendwann verschwand die Todesangst. Anschließend fühlte sie sich so niedergeschlagen, erschöpft und leer wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
Es gab so viel Böses auf der Welt, es war allgegenwärtig, allmächtig. Wie klein, wie sinnlos waren dagegen ihre eigenen Bemühungen. Was sie auch tat, es war aussichtslos. Das Böse siegte immer.
Vivana begann zu weinen.
Ruac stieß sie mit der Schnauze an. Mit schmerzenden Gliedern setzte sie sich auf, drehte sich von dem Licht weg und drückte den Tatzelwurm an sich. Alles, was sie wollte, war schlafen, vergessen. Ihren Verstand für einige Stunden ausschalten, damit sie nicht unentwegt daran denken musste, wie schwach und unbedeutend sie war.
Ihr Vater erschien zwischen den Felsen.
»Wo ist der verdammte Alb?«, knurrte er.
Vivana hatte Mühe zu sprechen. Ihr Rachen fühlte sich rau, heiß und verklebt an, wie bei einer Erkältung. Als ihr Vater näher kam, sah sie, dass er ein Messer in der Hand hielt. »Was hast du vor?«
»Den Mistkerl abstechen.«
»Was? Bist du verrückt geworden?«
Er blickte sich um und schnaubte wütend, als er Lucien nirgends entdeckte. »Gib mir den Tatzelwurm«, verlangte er.
Vivana verbarg Ruac schützend in den Armen. »Was ist denn auf einmal mit dir los?«
Er beugte sich zu ihr herunter. Das gleißende Licht fiel von der Seite auf sein Gesicht, und sie sah, dass es vor Hass verzerrt war. »Gib ihn mir!«
Er streckte seine mechanische Hand nach Ruac aus. Vivana wich zurück. »Lass ihn in Ruhe!«
»Diese abstoßende Missgeburt! Überall kriecht er herum und schnüffelt und züngelt. Ich habe das lange genug ertragen. Jetzt ist Schluss. Ich schlitze ihn auf und ziehe ihm die Haut ab!«
Als er abermals nach Ruac greifen wollte, biss ihm der Tatzelwurm in den Arm. Vivanas Vater brüllte vor Zorn und holte mit dem Messer aus. Vivana duckte sich gerade noch rechtzeitig, sodass die Klinge über den Felsen schrammte.