Heute Nacht betrete ich das Pandæmonium. Was muss ich tun, um dort zu überleben?
Vivana seufzte. Es hatte keinen Zweck. Egal, wie sie es anstellte, früher oder später würde ihre Tante herausfinden, dass sie sich mit Liam das javva geteilt hatte und mit ihm in Lady Sarkas Palast eingedrungen war. Vivana hatte ihr Versprechen gebrochen und Livias Vertrauen missbraucht. Daran würden auch wortreiche Erklärungen nichts ändern.
Und was tat man, wenn man seine Tante hintergangen hatte? Man bat sie gleich noch einmal um Hilfe. Vivana kam sich unsagbar schäbig vor, während sie durch das Gassengewirr des Vergnügungsviertels eilte. Aber was blieb ihr anderes übrig? Um Liam zu retten, durfte sie nichts unversucht lassen. Und außer Livia kannte sie niemanden, der etwas von Magie und Dämonen verstand.
Wenn sie nur mehr Zeit gehabt hätte... Noch höchstens eine Stunde, bis die Sonne unterging. Dabei hätte sie schon viel früher hier sein können, wenn der Tag nicht eine einzige Katastrophe gewesen wäre. Erst der Streit mit ihrem Vater, dann ihre Flucht durch die halbe Stadt und das lächerliche Versteckspiel in den Gassen des Labyrinths. Bei ihrer Ankunft in der Namenlosen Herberge war Vivana bereits seit dreißig Stunden auf den Beinen. Sie war so erschöpft gewesen, dass sie, kaum hatte sie sich hingelegt, sofort eingenickt war. Sie hatte nur ein bisschen ausruhen wollen, doch ihr Vater ließ sie schlafen, weil er dachte, er täte ihr damit einen Gefallen – mit dem Ergebnis, dass sie erst vor einer halben Stunde aufgewacht war. Vivana hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt.
Sie kam zum Platz der Erztugenden mit dem kleinen Wanderzirkus ihrer Manuschfamilie. Um den Halbkreis der bunten Reisewagen war es ungewöhnlich ruhig. Livias Kinder spielten Ball; Nedjo, einer der jüngeren Brüder ihres Onkels, saß unter dem Sonnensegel und schnitzte, während er das Mädchen und die beiden Jungen beaufsichtigte. Sonst schien niemand da zu sein.
»Wo sind denn alle?«, erkundigte sich Vivana, nachdem sie Nedjo begrüßt hatte.
Der Manusch legte Holzstück und Schnitzmesser weg. »Heute Nacht haben sich Ghule im Viertel herumgetrieben. Madalin und die anderen sind seit Sonnenaufgang auf den Beinen und suchen alles ab, um die Mistviecher zu verjagen, falls sich noch irgendwo welche verstecken.«
»Euch ist doch nichts passiert, oder?«
»Uns geht es gut, keine Sorge. Aber Farkas wurde verletzt. Ein Ghul hat ihn angefallen, als er im Morgengrauen nach Hause kam.«
Farkas war das Oberhaupt einer anderen Manuschfamilie, die sich zeitweise in Bradost aufhielt. Vivana kannte ihn flüchtig. »Ist es schlimm?«
»Kann ich nicht sagen. Livia ist noch nicht zurück.«
»Sie ist bei ihm?«
»Farkas’ Frau hat sie gerufen, damit sie sich die Verletzungen ansieht.«
»Aber ich muss dringend mit ihr sprechen.«
»Ich weiß. Livia hat den ganzen Tag auf dich gewartet.« Nedjo grinste schief. »Und sie war ziemlich wütend, weil du nicht aufgetaucht bist. Jedenfalls soll ich dir ausrichten, dass du hierbleiben sollst, bis sie zurück ist.«
Vivana runzelte die Stirn. Ihre Tante wusste, dass sie herkommen würde? Richtig – sie wartet auf das Buch. »Wie lange dauert das?«
»Schwer zu sagen. Wie ich Livia kenne, wird sie bis zur Ausgangssperre bei Farkas bleiben.«
»So viel Zeit habe ich aber nicht!«
»Macht dein Vater wieder Ärger?«
Vivana hatte nicht die geringste Lust, Nedjo zu erzählen, was geschehen war. Er würde sie nur auslachen oder mit Fragen bestürmen oder womöglich gar versuchen, sie aufzuhalten. »Wohnt Farkas immer noch unten am Fluss?«
»An derselben Stelle wie jedes Jahr.«
Das war zu weit. Selbst wenn sie sich beeilte, selbst wenn es ihr gelang, ihre Tante dazu zu bringen, ihr zuzuhören, würde sie niemals rechtzeitig bei der Alten Arena sein. Vivana fluchte innerlich. Tante Livias Hilfe konnte sie abschreiben. Schlimmer noch: Nun konnte sie sich nicht einmal von ihr verabschieden.
»Willst du mir nicht erzählen, was los ist?«, fragte Nedjo.
»Kann ich Livia eine Nachricht hinterlassen?«
»Natürlich. Schau mal in ihrem Wagen nach. Sie müsste irgendwo Papier und Tinte haben.«
Vivana setzte Ruac ab und stieg die Trittleiter von Livias Reisewagen hinauf. Der Tatzelwurm watschelte über das Kopfsteinpflaster und rollte sich im letzten Fleckchen Sonne auf dem Platz zusammen.
Sie öffnete die Wagentür und trat ein. Nachdem sie in einer von Livias Zedernholzkisten Schreibzeug gefunden hatte, setzte sie sich an den kleinen Tisch und tunkte den Federkiel in das Tintenglas.
Ihr Blick schweifte über die Regalbretter mit den alten Folianten, über die Schnüre mit getrockneten Kräutern, die von der Decke hingen. Es gab so vieles, was sie ihrer Tante sagen wollte. Sie wusste nicht, womit sie anfangen sollte.
Während sie nach Worten suchte, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie vielleicht zum letzten Mal hier saß. Das Pandæmonium war ein schrecklicher Ort, schlimmer als alles, was sie sich vorstellen konnte. Nicht ausgeschlossen, dass sie ihre Tante nie wiedersehen würde.
Sie kaute auf ihrer Unterlippe, strich das Papier glatt und begann zu schreiben.
Liebe Tante Livia,
Ich habe mein Versprechen nicht gehalten und Liam geholfen, in die Bibliothek von Lady Sarka einzubrechen – ich konnte ihn einfach nicht allein gehen lassen. Es tut mir leid.
Heute Nacht ist etwas Schreckliches geschehen. Nachdem wir das Buch gefunden hatten, haben Ghule und Schattenwesen den Palast angegriffen. Eines der Wesen, ein Incubus, hat Liam ins Pandæmonium geschleudert. Ich weiß, wie sich das anhören muss – ich kann es selbst kaum glauben –, trotzdem ist es wahr.
Ich glaube fest daran, dass Liam noch am Leben ist, aber wenn ich ihn retten will, darf ich keine Zeit verlieren. Deshalb kann ich nicht auf dich warten. Wenn du diesen Brief liest, werde ich schon auf dem Weg ins Pandæmonium sein. Ich habe herausgefunden, wo ein Tor ist. In wenigen Stunden öffnet es sich.
Bitte mach dir keine Sorgen um mich. Ich gehe nicht allein. Mein Vater ist bei mir und ein Freund. Du hast vielleicht schon von ihm gehört. Sein Name ist Lucien. Er ist ein Alb. Wahrscheinlich bist du jetzt wütend auf mich. Glaub mir, ich hätte dir all das lieber persönlich gesagt.
Wünsch mir Glück.
Vivana
Sie blies die Tinte trocken und faltete den Brief zusammen. Dann stand sie auf und blickte sich ein letztes Mal in dem Reisewagen um, der ihr immer wie eine zweite Heimat erschienen war, wie eine Zuflucht, wenn sie Bradost und die Welt ihres Vaters nicht mehr ertrug. »Leb wohl«, murmelte sie und schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter.
»Willst du nicht doch lieber warten?«, erkundigte sich Nedjo, als sie nach draußen trat. »Vielleicht hast du Glück, und Livia kommt gleich.«
»Nein. Ich muss los. Kannst du ihr das geben?«
»Natürlich.« Der Manusch nahm die Nachricht entgegen. Er runzelte die Stirn. »Es ist doch alles in Ordnung, oder?«
»Klar. Mach’s gut, Nedjo«, sagte Vivana und umarmte ihn.
»Du tust gerade so, als wolltest du fortgehen«, meinte er verwirrt.
»Livia wird dir alles erklären.« Sie blickte auf. Nicht mehr lange bis Sonnenuntergang. Höchste Zeit, dass sie sich auf den Weg machte. Sie rang sich ein Lächeln ab, hob Ruac auf und schlenderte betont gelassen davon.
Als der Wanderzirkus außer Sicht war, ging sie schneller, rannte beinahe, die Arme um Ruac geschlungen. Sie konnte nur hoffen, dass Nedjo nicht auf dumme Ideen kam. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war ein misstrauischer Verwandter, der ihr heimlich folgte. Verstohlen blickte sie über die Schulter, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Um sicherzugehen, nahm sie einen Schleichweg durch Seitengassen, Hinterhöfe und trockengelegte Kanäle, wo sie sich rasch in einem dunklen Winkel verstecken konnte, wenn es sein musste.