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Kurz darauf betrat sie den Platz, der die Alte Arena umgab. Die Lampenanzünder machten gerade die Runde, und das gewaltige Gebäude, eben noch ein konturloser Block im Zwielicht der Abenddämmerung, erstrahlte nun im Schein der Gaslaternen. Rundbögen durchbrachen das rußige, verwitterte Mauerwerk, das ein gewaltiges Oval bildete und drohend aus dem Kopfsteinpflaster wuchs. Risse und Löcher klafften darin, manche so breit, dass Vivana die terassenförmig angelegten Zuschauerränge im Innern erkennen konnte. Dutzende von Statuen krönten den Mauerring, von Wind und Wetter im Lauf vieler Jahrhunderte zu unförmigen Zapfen abgeschliffen, grotesk verwachsene Formen vor dem glühenden Himmel.

Tavernen und Läden befanden sich in den Arkaden im Erdgeschoss, die übelsten Spelunken und Spielhöllen der ganzen Stadt. Rotes, gelbes und grünes Licht glühte in den Torbögen. Ausgelassene Geigen- und Pfeifenmusik vermischte sich mit rauem Gelächter und dem Grölen der Betrunkenen. Rauch quoll aus den Luftschächten und wurde zusammen mit dem Dampf der Garküchen und dem Geruch von Opium, Ale und scharfem Branntwein vom Wind über die Dächer getragen.

Vivana kam gerade rechtzeitig: Eben versank die Sonne hinter dem Wald aus Kaminen, Wetterfahnen und Erkertürmchen.

Leider hatte sie nicht die geringste Ahnung, wo Lucien sie erwartete. Sie hatten keinen genauen Treffpunkt vereinbart.

Sie warf einen Blick zu der Herberge am Rand des Platzes. Vermutlich kauerte ihr Vater gerade am Fenster und beobachtete sie argwöhnisch. Sie wollte sich keine Blöße geben, indem sie den Eindruck erweckte, nicht zu wissen, was sie tat. Zielstrebig ging sie auf die Arena zu.

Ruac züngelte und fing zu zappeln an.

»Mir gefällt es hier auch nicht«, murmelte sie. »Aber uns wird schon nichts passieren. Lucien wartet bestimmt bereits auf uns.«

Fauliger Gestank erfüllte den Platz. Das Unwetter der vergangenen Nacht war so heftig gewesen, dass die Abflussschächte die Wassermassen nicht mehr hatten aufnehmen können. Überall waren Unrat und übel riechender Schlamm durch die rostigen Gitter heraufgequollen. Vivana ließ Ruac auf ihre Schultern klettern und betrat den erstbesten Torbogen.

An einem Stützpfeiler hing eine Messinglaterne, die so beschaffen war, dass sie die Schatten von Reitern und gehörnten Ungeheuern auf die Wände warf. Ein Tunnel führte ins Innere des Bauwerks; in den Nischen standen runde Tische, an denen ausnahmslos Männer saßen, die Ale und Gin hinunterstürzten, Karten spielten oder in flüsternde Gespräche vertieft waren. Einige glotzten Vivana unverhohlen an, während sie an ihnen vorbeiging. Sie tat, als bemerke sie es nicht.

Aus einem Durchgang ertönten Knurren, Hundegebell und Gebrüll; es stank nach Kot, Blut und Schnaps. Sie sah eine Menschenmenge, die sich im Schein einer Gaslampe um eine Grube drängte, und konnte zwei Hunde erkennen, die mit gefletschten Zähnen aufeinander losgingen. Der kleinere der beiden, ein einäugiger Mischling, biss dem größeren die Flanke blutig, woraufhin ein Teil der Menge jubelte, während der andere fluchte und schimpfte.

Angewidert wandte sich Vivana ab. Es wunderte sie immer weniger, dass sich das Tor zum Pandæmonium irgendwo hier befand. Sie spürte förmlich, wie durch und durch verkommen dieses Gemäuer war.

Wo steckte nur Lucien? War er aufgehalten worden?

Sie folgte dem Tunnel, der eine Biegung beschrieb. In den Nischen standen nun keine Tische mehr, sondern gestapelte Kisten und Fässer. Eine Treppe führte zu einer offenen Tür hinab. Darüber hing ein Schild, auf das jemand mit roter Farbe die Worte KURIOSITÄHTEN ALLER ART gepinselt hatte.

Nirgendwo eine Spur von Lucien.

Vivana hatte nicht das geringste Verlangen, auch nur einen Schritt weiter zu gehen. Sie beschloss, umzukehren und anderswo nach dem Alb zu suchen. Als sie sich umdrehte, stieß sie beinahe mit einer Gestalt zusammen.

»Ein interessantes Tier hast du da.«

Aus den Schatten tauchte ein Mann auf. Obwohl er sehr groß sein musste, überragte er sie nur um einen halben Kopf, denn er stand krumm da, als sei sein Rückgrat nicht stabil genug, um Schultern und Kopf zu tragen. Schäbige Kleider verhüllten den dürren Leib. Aus seinem Kinn, das wie der Rest des Gesichtes von Ausschlag gerötet war, sprossen hier und da vereinzelte Barthaare.

Ruac stellte die Rückenstacheln auf und zischte feindselig.

»Ein Tatzelwurm, nicht wahr?«, meinte der Kerl. »Ein waschechtes Schattenwesen. Sieht man nicht oft heutzutage.«

»Lass mich durch«, sagte Vivana.

»Wo hast du ihn gefunden?«

Sie machte einen Schritt zur Seite, doch der Fremde ließ sie nicht vorbei. Trotz seiner Größe und unmöglichen Körperhaltung war er sehr flink. Seine Bewegungen hatten etwas Abstoßendes, etwas... Spinnenhaftes. Leise Furcht stieg in ihr auf.

»Weißt du, wie wertvoll ein echter Tatzelwurm ist? Die Trankmischer im Chymischen Weg würden ein hübsches Sümmchen dafür zahlen.«

»Ruac ist nicht zu verkaufen!«, fuhr Vivana ihn an.

»Tatsächlich? Wir haben doch noch gar nicht über den Preis gesprochen.«

Vivana biss die Zähne zusammen und gab dem Mann einen Stoß. Als er zur Seite taumelte, hielt sie Ruac fest und wollte an ihm vorbeihuschen, fort aus dem halbdunklen Tunnel. Doch seine Hand schnellte nach vorne und packte ihren Arm.

»Nicht so hastig, junge Dame. Wir kommen doch gerade erst ins Geschäft.«

Vivana trat ihm mit aller Kraft gegen das Schienbein. Er heulte vor Schmerz auf, bevor sich sein Gesicht zu einer Grimasse der Wut verzerrte. »Na warte«, krächzte er und holte zum Schlag aus. Vivana duckte sich rechtzeitig, aber dabei entwand sich Ruac ihren Händen. Der Tatzelwurm schoss mit vor Zorn glühenden Flanken auf den Schlaksigen zu.

»Ruac, nicht!«, rief sie, doch es war bereits zu spät. Der Tatzelwurm biss dem Fremden in den Stiefel, woraufhin dieser fluchend auf einem Bein zu hüpfen begann und versuchte, ihn abzuschütteln. Im nächsten Moment segelte das Reptil in hohem Bogen durch die Luft und prallte gegen einen Kistenstapel.

Vivana wollte zu ihm laufen, als sie sah, dass der Schlaksige hinkend auf sie zukam. Sein Gesicht leuchtete rot, er schnaufte und ballte die Fäuste. »Das machst du nicht nochmal, du Miststück...«

Plötzlich wurden seine Augen glasig, er brach ohne einen Laut zusammen und blieb mit verdrehten Gliedern liegen.

»Keine Angst«, sagte Lucien, »er schläft nur.«

2

Nestor Quindal taucht unter

Vivana stürzte zu dem Kistenstapel und hob Ruac auf. Der Tatzelwurm züngelte, als er sich in ihre Arme schmiegte; seine Schuppen strahlten immer noch Hitze ab. Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung war ihm nichts passiert. Ruac mochte klein sein, aber er war hart im Nehmen.

Sie wandte sich zu Lucien um, der aus dem Halbdunkel in das Laternenlicht des Kuriositätenladens trat. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie ihn richtig erkennen konnte. Wie alle Schattenwesen besaß er die Gabe, sich unauffällig zu machen, sodass man einfach durch ihn hindurchsah, selbst wenn er direkt vor einem stand.

»Du hättest ruhig ein bisschen früher kommen können«, sagte sie. »Der Kerl wollte mir Ruac wegnehmen.«

»Da vorne waren zu viele Leute«, erwiderte Lucien. »Wieso hast du nicht draußen auf mich gewartet?«

»Weil ich dachte... Ach, egal, jetzt bist du ja da. Wie lange wird er schlafen?«, fragte Vivana mit Blick auf den Bewusstlosen.

»Ein paar Stunden. Wenn niemand ihn aufweckt.«