»Danke«, murmelte sie.
Lucien nickte nur. Er sah wesentlich besser aus als letzte Nacht. Er hatte seine Schrammen und Kratzer versorgt, sich gewaschen und umgezogen. Das weiße Haar floss wie Sternenlicht über seine Schultern und das nagelneue, mondstaubfarbene Wams. In seinem Gürtel steckten Messer und allerlei obskure Werkzeuge. Außerdem trug er einen kleinen Lederrucksack. »Der Tatzelwurm gehört dir, nehme ich an.«
»Ja.«
»Willst du ihn mitnehmen?«
»Natürlich.«
»Gut. Tatzelwürmer sind nützliche Gefährten. Hast du dich auf unsere Reise vorbereitet?«, fragte der Alb.
Sie nickte.
»Wo sind deine Sachen?«
»Bei meinem Vater. Er kommt mit«, fügte sie hinzu.
Lucien nahm diese Neuigkeit schweigend auf. »Das war nicht abgesprochen.«
»Er hat darauf bestanden. Ich konnte ihn nicht davon abbringen.«
»Weiß er, worauf er sich einlässt?«
»Glaube ich kaum. Er ist der Meinung, es gibt kein Pandæmonium.«
»Dein Vater ist Wissenschaftler, richtig? Nun, er wird bald Gelegenheit bekommen, seine Ansichten zu überdenken. Ich hoffe nur, er hält uns nicht auf. Wo ist er?«
»Er wartet in der Namenlosen Herberge. Ich wollte mich zuerst allein mit dir treffen.«
»Geh ihn holen. Das Tor öffnet sich bald, und es ist noch ein weiter Weg.«
Lucien begann, sich unauffällig zu machen. Vivana hatte bereits Mühe, ihn zu erkennen. »Warte! Wie finden wir dich?«
»Ich finde euch«, sagte der Alb und verschwand.
Vivana wandte sich zum Gehen, obwohl sie große Lust hatte, ihren Vater einfach in der Herberge sitzen zu lassen, nach allem, was er heute Morgen zu ihr gesagt hatte.
»Meinst du, er kriegt es hin, mit Lucien keinen Streit anzufangen?«, fragte sie.
Ruac blickte sie mit seinen gelben Reptilienaugen an.
»Du hast recht. War eine blöde Frage.«
Vivana wusste nicht, wie oft sie sich in den letzten Jahren mit ihrem Vater gestritten hatte. Tausendmal, vielleicht noch mehr, sie hatte aufgehört zu zählen. Doch so schlimm wie heute Morgen war es noch nie gewesen.
Sie war gegen fünf Uhr nach Hause gekommen, erschöpft, durchnässt und niedergeschlagen. Leise hatte sie die Tür aufgeschlossen und war hineingeschlichen, um ihren Vater nicht zu wecken. Sie wollte nicht mit ihm reden und hatte beschlossen, ihm auf dem Küchentisch eine Nachricht zu hinterlassen. Ich bin ein paar Tage fort, mach dir keine Sorgen um mich. Das war zwar nicht gerade fair ihm gegenüber, eigentlich war es sogar ziemlich mies, aber wenn sie versuchte, ihm alles zu erklären, würde es nur wieder Streit geben.
In der Eingangshalle kam ihr Ruac entgegen und blickte sie vorwurfsvoll an. Vivana hob ihn hoch. »Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Aber ich konnte dich nicht mitnehmen. Es war zu gefährlich. Das verstehst du doch, oder? Komm, ich gebe dir was zu Fressen.«
Als sie gerade zur Küche schleichen wollte, erklang eine Stimme aus dem Halbdunkeclass="underline" »Wo warst du?«
Vivana fuhr erschrocken herum. »Oh. Du bist schon wach?«
Ihr Vater stand von dem Ohrensessel auf und kam näher. »Wieso bist du gestern Abend nicht nach Hause gekommen? Ich habe dich überall gesucht! Hast du dich wieder bei den Manusch herumgetrieben?«
Sie seufzte. Genau das hatte sie vermeiden wollen. »Später, Paps. Schau mal, wie ich aussehe. Ich muss mich waschen. Außerdem bin ich müde...«
»Nein. Du sagst mir auf der Stelle, wo du die ganze Nacht gewesen bist.«
»Nicht bei den Manusch, falls es dich beruhigt.«
»Wo dann? Verdammt noch mal, rede mit mir!«
Vivana gab auf. Es hatte keinen Sinn. Er würde sie nicht eher in Ruhe lassen, bis sie ihm alles erzählt hatte. »Ich war bei Liam, wenn du es unbedingt wissen willst. Wir waren im Palast von Lady Sarka. Ich habe ihm geholfen, das Gelbe Buch von Yaro D’ar zu holen, aber dann ist etwas Schreckliches geschehen...«
»Wieso weißt du von dem Buch?«, fiel er ihr ins Wort.
»Ich weiß es eben.«
»Liam hat dich da hineingezogen, nicht wahr? Ich wusste es! Dabei habe ich ihm ausdrücklich gesagt, dass er mit niemandem darüber sprechen soll, und mit dir schon gar nicht!«
»Er hat mich nirgendwo hineingezogen. Er hat sich mir anvertraut, weil er nicht weiterwusste. Da habe ich beschlossen, ihm zu helfen.«
»Du kennst ihn doch überhaupt nicht.«
»Doch, tue ich. Ich liebe ihn. Und er liebt mich.«
Das verschlug ihm die Sprache.
Vivana nutzte die Gelegenheit, schob sich an ihm vorbei und eilte mit Ruac auf dem Arm zu ihrem Zimmer.
»Was ist im Palast passiert?«, fragte ihr Vater und lief ihr nach. »Habt ihr das Buch gefunden?«
»Ja.«
»Wie seid ihr an den Spiegelmännern vorbeigekommen?«
»Lange Geschichte.« Sie setzte Ruac auf den Boden und öffnete die Tür ihres Zimmers.
»Hat euch jemand gesehen?«
»Nein.«
»Bist du dir ganz sicher? Wenn es auch nur den kleinsten Hinweis gibt, dass ihr das Buch gestohlen habt, kommen wir alle drei in Teufels Küche!«
»Hör zu, Paps. Niemand weiß, dass wir das Buch haben. Aber darum geht es überhaupt nicht. Was passiert ist, ist viel schlimmer.« Sie holte ihren Lederranzen unter dem Bett hervor, warf ihn auf die Bettdecke und öffnete den Kleiderschrank. Was packt man für eine Reise ins Pandæmonium ein?, fragte sie sich ratlos.
Ihr Vater stand in der Tür. In seiner Wut bemerkte er nicht, dass Ruac ihn die ganze Zeit anfauchte. »Schlimmer? Was meinst du damit?«
»Liam ist verschwunden.«
»Wie verschwunden? Ist er mit dem Buch abgehauen? Herrgott, Vivana, lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!«
Sie nahm ein Hemd vom Kleiderbügel und holte tief Luft. »Ghule haben den Palast in der Nacht angegriffen. Ghule und ein paar Schattenwesen. Dabei war auch ein Incubus. Er hat Liam ins Pandæmonium geworfen.«
»Falls das ein Witz sein soll, ist es ein sehr schlechter«, schnarrte der Erfinder.
»Du kannst ja Lady Sarka fragen, wenn du mir nicht glaubst.« Sie nahm das Hemd und eine Hose und stopfte sie in den Ranzen.
»Wieso sollten die Ghule den Palast angreifen?«
»Weil Lady Sarka einen Traumwanderer hat und Aziel ihn umbringen wollte... glaube ich.«
»Vivana, ich verstehe kein Wort.«
Vivana entdeckte ihre Winterjacke oben im Schrank. Sollte sie die Jacke mitnehmen? In den alten Geschichten hieß es, das Pandæmonium sei ein heißer Ort, aber vielleicht stimmten die Geschichten ja gar nicht. Sie faltete die Jacke zusammen und steckte sie ein.
»Was zum Teufel machst du da?«, fragte ihr Vater.
»Ich packe.«
»Das sehe ich. Und wofür?«
»Lucien und ich gehen Liam suchen.«
»Wer bitte ist Lucien?«
»Ein Alb.«
»Was?«
Vivana begutachtete den Inhalt ihres Ranzens. Genug Kleider. Sie musste noch Platz für Verpflegung und Ausrüstung lassen. Sie stopfte ein zweites Paar Schuhe und eine Wolldecke hinein und verließ das Zimmer.
Ihr Vater ging so dicht hinter ihr, dass er ihr fast auf die Hacken trat. »Und wo wollt ihr Liam suchen, wenn ich fragen darf?«
»Hab ich doch gesagt. Er ist im Pandæmonium.«
»Es gibt kein Pandæmonium.«
»Wenn du meinst«, murmelte sie.
»Das Pandæmonium ist eine Metapher. Eine Parabel. Ein Hirngespinst religiöser Spinner. Kein realer Ort. Man kann dort nicht hingehen.«
»Doch, kann man. Lucien kennt ein Tor. Es ist unter der Alten Arena.« Vivana betrat die Küche, öffnete die Vorratskammer und verstaute Konserven und Lebensmittel in ihrem Ranzen.
»Das ist völliger Unsinn.«
»Halte davon, was du willst. Aber lass mich in Ruhe, in Ordnung?« Sie stellte den Ranzen auf den Tisch und öffnete die Tür der Rumpelkammer. Sie brauchte eine Lampe. Ein Messer. Vielleicht ein Seil. Halt, dachte sie. Zuerst die Medikamente. Medikamente sind wichtiger. Sie machte den Hängeschrank über der Spüle auf.