Als Vivana die Arkaden verließ, zog gerade ein Luftschiff am Himmel vorbei. Für eine Minute verdeckte es die Sterne, ein zapfenförmiger Kern aus Schwärze, bevor es mit summenden Aethermotoren und blinkenden Scheinwerfern südwärts verschwand. Vivana vergewisserte sich, dass keine Soldaten in der Nähe waren, dann überquerte sie den Platz. Mit Ruac auf den Schultern huschte sie zu einem Eckhaus mit steilem Dachgiebel und windschiefem Kamin, stieß die Tür auf und wurde von schummrigem Licht und Pfeifenrauch empfangen. Die schattenhaften Gestalten in den Nischen raunten einander ihre Geheimnisse zu und beachteten sie nicht, während sie die knarrenden Holzstufen hinaufstieg. In der Namenlosen Herberge fanden Gegner Lady Sarkas eine sichere Zuflucht. Wer hierherkam, wollte nicht gesehen und gehört werden und respektierte, dass die anderen Gäste denselben Wunsch hatten.
Sie klopfte an die Tür ihrer Unterkunft und wartete. »Ich bin’s. Mach auf.«
»Zuerst die Losung«, erklang gedämpft die Stimme ihres Vaters.
Vivana verzog den Mund. »Aetherumwandler.«
Er ließ sie herein.
»Das ist albern, Paps.«
»Man kann nicht vorsichtig genug sein.«
»Wir sind hier sicher.«
»Darauf würde ich nicht wetten. Während du fort warst, habe ich draußen zwei Spiegelmänner gesehen.«
»Sie suchen immer noch nach den Attentätern. Das hat nichts mit uns zu tun.«
Er spähte aus dem Fenster. »Hast du darauf geachtet, dass dir niemand folgt?«
»Ja!«
»Und? Konnte deine Tante dir weiterhelfen?«
»Sie war nicht da. Wir müssen jetzt los. Lucien wartet schon auf uns. Nun mach schon!«, drängte sie, da ihr Vater sich nicht von der Stelle rührte.
Mit einem missmutigen Zug um den Mund stellte er den Tragekorb aufs Bett und schlüpfte in die Lederschlaufen, sodass er ihn bequem auf dem Rücken tragen konnte. Vivana schulterte ihren Ranzen. Neben der Ersatzkleidung und der Ausrüstung hatte sie Wasser und Verpflegung eingepackt.
Ruac nahm sie auf den Arm. Ihr Vater blickte den Tatzelwurm wenig freundlich an.
»Er kommt mit, ob es dir passt oder nicht«, sagte sie.
Schnaubend ging er zu dem kleinen Tisch und griff mit seiner mechanischen Hand nach einem gefalteten und mit Kerzenwachs versiegelten Stück Papier.
»Was ist das?«
»Ein Brief an die Werkstatt. Ich habe meinen Leuten geschrieben, dass ich spontan verreisen musste. Ich bin ein bekannter Mann in Bradost; ich kann nicht einfach ohne eine Erklärung verschwinden. Das gäbe nur Gerede, und Aufmerksamkeit ist das Letzte, was ich jetzt will.«
»Hast du auch geschrieben, wohin du reisen musstest? Und wie lange du fort sein wirst?«
»Weder noch.«
»Wird deinen Leuten das nicht seltsam vorkommen?«
»Ich bin der Chef. Ich bin ihnen keine Rechenschaft schuldig. Sie werden annehmen, ich habe Urlaub genommen. Ich hatte schließlich seit Jahren keinen.«
»Aber in spätestens drei oder vier Wochen werden sie ahnen, dass etwas nicht stimmt.«
»Ich habe nicht vor, dann noch in Bradost zu sein.«
Also war es ihm ernst damit. Vivana hielt seine Angst, Lady Sarka könne ihnen auf die Schliche kommen, immer noch für maßlos übertrieben, aber sie wollte keinen neuen Streit, deshalb ließ sie es auf sich beruhen. Vielleicht beruhigte er sich, wenn er nach ihrer Rückkehr feststellte, dass die Geheimpolizei nicht hinter ihnen her war.
Sie verließen das Zimmer und stiegen die Treppe zum Schankraum hinunter. Vivanas Vater drückte dem Wirt seinen Brief zusammen mit einem Silberschilling in die Hand und erklärte ihm leise, wohin er die Nachricht schicken solle. Der Mann nickte und ließ Brief und Münze in seiner Schürze verschwinden.
Draußen war keine Menschenseele mehr unterwegs. Vivana und ihr Vater blieben neben einer Plakatsäule stehen, wo es stockdunkel war.
Sie schwiegen. Seit ihrer Ankunft in der Namenlosen Herberge hatten sie kein Wort über ihren Streit verloren, doch vergessen war er deswegen noch lange nicht. Etwas war heute Morgen zwischen ihnen zerbrochen, etwas Grundlegendes, und Vivana fragte sich, ob sie je wieder Vertrauen zueinander fassen konnten. Eines stand jedenfalls fest: Wenn er Frieden wollte, würde er den ersten Schritt tun müssen. Sie war dazu nicht in der Lage. Seine Worte hatten sie zu sehr verletzt.
Kurz darauf erklang Luciens Stimme: »Ihr seid spät dran.«
Die Worte schienen aus dem Nichts zu kommen. Für einen kurzen Moment glaubte Vivana, den Alb zu erkennen, eine schemenhafte Gestalt in der Dunkelheit.
»Entschuldige«, sagte sie. »Wir sind so schnell gekommen, wie es ging.«
»Das ist dein Vater, nehme ich an. Der berühmte Nestor Quindal. Es ist mir ein Vergnügen.«
Mit gerunzelter Stirn betrachtete ihr Vater die Stelle, wo er den Alb vermutete. »Warum zeigst du dich nicht?«
»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte Lucien. »Was ist in dem Korb?«
»Verpflegung und Ausrüstung für eine lange Reise«, erklärte Vivana, »so wie du gesagt hast.«
»Deswegen hättet ihr nicht den halben Hausrat einpacken müssen. Mit so viel Gepäck kommen wir im Pandæmonium keine fünf Meilen weit. Egal, darum kümmern wir uns nachher. Geht jetzt zum Eingang an der Südseite und folgt dem Tunnel, bis ihr zu einer Treppe auf der rechten Seite kommt. Dort gebe ich euch weitere Anweisungen.«
»Wieso sollten wir dir trauen?«, fragte Vivanas Vater.
»Weil er der Einzige ist, der weiß, wo das Tor ist«, sagte Vivana ungeduldig. »Jetzt komm schon.«
»Hör auf deine Tochter, Quindal. Sie ist ein kluges Mädchen.«
Vivana hörte leise Schritte, die sich von ihnen entfernten, und ging los. Ihr Vater folgte ihr widerwillig.
Öllampen mit milchig-trüben Glasfassungen hingen im Eingang auf der Südseite und tauchten ihn in fahles Licht. Niemand war zu sehen, aber aus den Gitterfenstern des Untergeschosses ertönte Tavernenlärm.
Vivana konnte spüren, dass Lucien immerzu in ihrer Nähe war, während sie den Tunnel entlanggingen. Rampen, die zu den Zuschauerrängen hinaufführten, zweigten links und rechts ab, waren jedoch mit Brettern vernagelt. Plakate von Varietés, Laterna-Magica-Vorführungen und Schauerkabinetten klebten daran.
Als sie die Treppe fanden, hörten sie abermals Luciens Stimme: »Da unten erwartet uns der Abschaum von Bradost. Also seht zu, dass ihr keinen Ärger bekommt. Ich bleibe dicht bei euch und sage euch, wohin ihr gehen müsst.«
Schaudernd dachte Vivana an ihre Begegung mit dem entstellten Händler, der ihr Ruac wegnehmen wollte. »Gibt es keinen anderen Weg?«
»Doch. Aber der ist noch schlimmer.«
Eine kurze und kaum merkliche Verschiebung von Licht und Schatten verriet ihr, dass Lucien vorausgegangen war. Sie hüllte Ruac in ihr Cape, sodass nur noch seine Schnauze zu sehen war, und stieg die engen Stufen hinab.
Die Treppe führte in einen weitläufigen Gewölbesaal. Feuer brannten in mehreren Kohlepfannen, die Luft war zum Schneiden dick von öligem Rauch und dem Geruch von Ale, saurem Wein und Opium. Tische standen kreuz und quer zwischen den Säulen, bevölkert von zechenden Menschen. Vivana sah Matrosen mit vernarbten Armen und bunten Kopftüchern, rotgesichtige Patrizier und junge Edelleute, die mit den Huren schäkerten oder sich an ihren Absinthkelchen labten. Irgendwo spielte jemand auf einer Pfeife eine wilde Melodie, begleitet von einem Tamburin, und auf einem der Tische tanzte ein leicht bekleidetes Mädchen, das höchstens so alt wie Vivana war. Ihre Zwillingsschwester saß auf dem Schoß eines Mannes und kicherte, als der seine Hand unter ihre Röcke schob.