»Wahrscheinlich steckt die Miliz dahinter«, sagte Nedjo. »Irgendjemand hat gemeldet, dass wir verschwunden sind, und da haben sie unsere Sachen beschlagnahmt.«
»Dieser Abschaum«, murmelte Madalin.
»Wir holen sie uns zurück«, sagte Livia. »Aber jetzt lass uns nach den Kindern sehen.«
Bajos Familie wohnte ganz in der Nähe des Platzes der Erztugenden, in einer alten Schnapsbrennerei, die Bajo vor vielen Jahren gekauft und umgebaut hatte. Das einstöckige Gebäude stand am Ufer eines der zahllosen Wasserkanäle und bestand aus verschiedenen Anbauten, manche aus Granit, die meisten aus farbenfroh angestrichenem Holz. Die Familie war einer der wenigen Manuschclans, die dauerhaft in Bradost lebten. Bajo und seine Leute galten als zähe Kämpfer und arbeiteten als Leibwächter und Geleitschutz für reiche Patrizier und Kaufleute.
Die Fenster des Hauses waren samt und sonders dunkel – so früh am Morgen schlief die Familie offenbar noch. Madalin pochte so lange an der Tür, bis ihm schließlich ein verschlafener Bajo im Morgenrock öffnete.
Der Manusch war nicht sehr groß, aber bullig gebaut und besaß ein breites, gutmütiges Gesicht. Wenn er den Mund öffnete, entblößte er eine Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen. Vivana mochte ihn, denn er war selbst nach Manuschmaßstäben überaus gastfreundlich und hilfsbereit.
»Ihr?«, sagte Bajo, als er sie endlich erkannte. »Bei den Geistern des Feuers und der Erde, wir hielten euch für tot! Rein mit euch, schnell. Ihr seht ja furchtbar aus. Und wer ist der Junge auf der Trage?«
Sie traten ein. Bajo schloss die Tür hinter ihnen.
»Wie geht es den Kindern?«, fragte Livia. »Sind sie noch bei euch?«
»Natürlich. Sie sind wohlauf. Esmeralda!«, brüllte Bajo in die Stille des Hauses. »Madalin und seine Leute sind zurück. Weck die Kinder! Beeil dich! Jetzt lasst euch ansehen«, wandte er sich wieder an seine Besucher. »Ihr seid wieder da. Allmächtiger. Ich habe schon nicht mehr daran geglaubt.«
Er umarmte sie und zerdrückte sie dabei schier mit seinen gewaltigen Armen. Tränen der Freude liefen ihm übers Gesicht. Als die Reihe an Vivana war, musterte er sie von oben bis unten. »Das Mädchen, das ins Pandæmonium hinabgestiegen ist, um ihren Liebsten zu retten«, sagte er beinahe ehrfürchtig. »Ihr habt sie also gefunden.«
»Mutter!«, erklang in diesem Moment ein Schrei, und Tamas, Arpad und Dijana stürmten herein. Madalin und Livia schlossen sie in die Arme; alle fünf weinten.
»Onkel Bajo hat gesagt, ihr seid tot«, rief Dijana.
»Es tut mir so leid, mein Schatz«, flüsterte Livia. »Ich lasse dich nie mehr allein. Nie mehr, hörst du?«
Nach und nach tauchten Bajos Frau und seine Verwandten und Kinder auf, sodass sich bald gut dreißig Manusch in dem Eingangsraum drängten. Bajo führte die gesamte Schar in einen geräumigen Saal und wies seine Brüder an, Speisen und Getränke aufzutragen. Obwohl es höchstens sechs Uhr morgens war, bahnte sich ein ausgelassenes Fest an.
»Unsere Wagen!«, brüllte Madalin und lief auf den Hof, wo am Kanalufer die Reisewagen seiner Familie standen.
»Wir haben sie hergeholt, um sie vor Dieben zu schützen«, erklärte Bajo. »Euren Tieren geht es gut. Sie sind im Stall.«
Lachend drückte Madalin den stämmigen Manusch an sich.
»Nun erzählt«, sagte Bajo voller Eifer. »Erzählt von eurem Abenteuer. Wir brennen darauf, alles zu erfahren. Das tun wir doch, oder?«, rief er in den Raum.
Seine Leute jubelten vor Begeisterung.
»Unsere Geschichte muss bis später warten«, sagte Livia. »Zuerst müssen wir uns um den Jungen kümmern.«
Vivana war währenddessen bei Liam geblieben, der in einer Ecke des Saales auf der Trage lag. Nun kamen die anderen zu ihr.
»Ist das dein Liebster?«, erkundigte sich Bajo.
Sie nickte und spürte, wie sie errötete.
»Was ist mit ihm?«
»Er ist besessen«, antwortete Tante Livia. »Ein Dämon hat seinen Körper gestohlen.«
Augenblicklich herrschte Stille im Raum. Einige Manusch wichen von der Trage zurück, andere machten Schutzzeichen gegen das Böse.
»Ein Dämon?«, fragte Bajo mit einem Anflug von Furcht.
»Ein Erzdämon. Aber er ist schwach. Vielleicht kann ich ihn vernichten und den Jungen retten.«
Vielleicht, hallte es in Vivana nach. Sie biss sich auf die Lippe und ergriff Liams Hand. Sie durfte jetzt nicht die Hoffnung verlieren.
»Bringen wir ihn in den Keller«, sagte Bajo.
Madalin und Vivanas Vater hoben die Trage hoch und folgten dem stämmigen Manusch. Keiner von Bajos Leuten bestürmte Livia mit Fragen oder bezichtigte sie der Lüge, wie es gebürtige Bradoster vermutlich getan hätten. Wie alle Manusch glaubten sie fest an die Welt der Magie und waren von der Existenz von Dämonen überzeugt. Hinzu kam, dass Livia eine angesehene Wahrsagerin war, deren Wort unter den hiesigen Manusch viel galt.
»Sag deinen Leuten, dass sie ihre Waffen holen sollen«, wandte sich Livia an Bajo. »Wenn das Ritual fehlschlägt, sollen sie vorbereitet sein.«
Bajo rief einen entsprechenden Befehl, woraufhin seine Verwandten, Männer wie Frauen, ausschwärmten. Dann griff er nach einer Lampe und führte Vivana und ihre Gefährten die Treppe hinab. Nedjo, Sandor und Jovan blieben auf Livias Geheiß bei den Kindern.
Sie kamen in einen Gewölbekeller voller Kisten und Körbe. Mehrere angelaufene Kupferfässer standen herum, Überreste aus der Zeit, als das Gebäude noch eine Schnapsbrennerei gewesen war.
»Ich brauche einen Raum, in dem wir uns einschließen können«, sagte Livia.
Bajo schloss eine eisenbeschlagene Tür auf, die allem Anschein nach schon Jahre nicht mehr geöffnet worden war, denn als er sie aufmachte, knarrten die Angeln, und Rost und Staub rieselten herab. Dahinter befand sich ein feuchter Kellerraum. Spinnweben hingen von der Decke.
Als Vivanas Vater Liam hineintragen wollte, hielt Livia ihn auf. »Du nicht«, sagte sie barsch. »Ich brauche niemanden, der die alten Künste für Mummenschanz hält.«
»Ich verspreche, dich nicht zu stören«, erwiderte der Erfinder. Es klang erstaunlich gelassen.
Vivana sah, dass ihre Tante zu einer scharfen Erwiderung ansetzte. »Lass ihn«, mischte sie sich ein. »Ohne seine Hilfe hätte ich Liam nicht gefunden.«
»Du verstehst das nicht...«
»Bitte. Ich möchte es so.«
Die Wahrsagerin musterte ihren Vater kalt. »Na schön«, sagte sie schließlich. »Vivana zuliebe. Aber ich will kein Wort hören, verstanden?«
Sie trugen Liam in die Gewölbekammer.
»Soll ich die Tür verriegeln?«, fragte Bajo.
»Noch nicht«, antwortete Livia. »Zuerst brauche ich Verschiedenes. Die Sachen aus meinem Wagen und ein Ochsenherz, ein möglichst frisches. Kannst du eins auftreiben?«
»Nur ein Schweineherz. Wir haben gestern geschlachtet.« »Das geht auch.«
Bajo eilte davon. Kaum hatte er den Keller verlassen, tauchte Lucien auf.
»Gut, dass du da bist«, meinte Livia. »Ich brauche vielleicht deine Hilfe.«
Sie warteten schweigend, bis Bajo zurückkam. Der Manusch trug eine Kiste, auf der ein blutiger Beutel lag. Als er Lucien erblickte, erschrak er so sehr, dass er die Sachen beinahe fallen ließ.
»Wer ist das?«
»Ein Alb«, erklärte Livia. »Sein Name ist Lucien. Hab keine Angst. Er ist ein Freund.«
»Merkwürdige Freunde habt ihr«, murmelte Bajo kaum hörbar und beäugte Lucien voller Unbehagen, ehe er die Kiste abstellte.
»Verriegele die Tür«, bat die Wahrsagerin ihn. Als das geschehen war, öffnete sie die Kiste und breitete ihre Sachen auf dem Steinboden aus: Schriftrollen und in Leder gebundene Folianten, getrocknete Kräuter, ein Messer mit geheimnisvollen Zeichen auf der Klinge, Salbentiegel und Trankphiolen, deren Inhalt im Lampenlicht in seltsamen Farben schimmerte. »Fesselt Liam«, befahl sie. »Bindet ihn an der Trage fest.«