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Sie schaffen es nicht, dachte Vivana panisch. Er ist immer noch zu stark.

Livia raffte ihre Röcke und kam zu ihr gelaufen. »Hast du das Herz?«

»Ja, hier.«

Die Wahrsagerin nahm es. »Es hat ihn berührt. Vielleicht genügt es.« Sie begann mit einer neuen Beschwörungsformel.

Augenblicklich erlahmte die Gegenwehr des Dämons. Bajo und Madalin nutzten die Gelegenheit und ergriffen seine Arme. Vivanas Vater und Lucien setzten sich auf seine Beine. Liams Gesicht verzerrte sich, als erleide er unsagbare Qualen, und er öffnete den Mund zu einem stummen Schrei. Ein erneuter Krampf durchlief seinen Körper. Schließlich versteifte er sich.

Die Kraftwelle, die durch den Kellerraum rollte, war so machtvoll, dass Vivana und ihre Gefährten umgeworfen wurden. Die Schriftzeichen auf den Steinplatten glühten auf, so hell und gleißend, dass es in den Augen schmerzte – und erloschen.

Liam lag reglos da.

Vivana rappelte sich auf und lief zu ihm. Er atmete – unregelmäßig zwar, aber er atmete. Der Ausdruck der Bosheit war aus seinem Gesicht verschwunden. Der Dämon war fort, sie konnte es spüren.

»Macht ein Feuer«, befahl Tante Livia. »Beeilt euch.«

Das Herz lag auf dem Boden. Rauch drang aus Adern und Rissen im Gewebe. Es begann, von innen heraus zu verbrennen.

Lucien schichtete die Überreste der Trage zu einem Haufen auf. Bajo zerschlug die Laterne auf dem Boden. Das auslaufende Öl fing sofort Feuer, das auf die Stoff- und Holzreste übergriff.

Livia warf das Herz in die Flammen.

Der widerwärtige Geruch gebratenen Fleisches breitete sich aus. Ein fratzenhaftes Gesicht erschien im Rauch, Flügel und mit Dornen versehene Gliedmaßen, die in die Luft griffen, als suchten sie nach Halt, bevor sie sich wieder auflösten. Die schemenhaften Umrisse verdichteten sich zu einer Form, und für einen Augenblick glaubte Vivana zu erkennen, wie der Dämon in seiner wahren Gestalt ausgesehen hatte: so ähnlich wie Nachach, nur kleiner und mit vier Schwingen auf dem Rücken wie ein monströser Schmetterling. Ein Schrei voller Schmerz und Qual erklang. Vivana hörte ihn nicht mit den Ohren – er hallte irgendwo in ihrem Kopf wider. Noch einmal breitete sich die Aura des Bösen im Raum aus, doch schon einen Moment später verflüchtigte sie sich und mit ihr die Gestalt im Rauch.

Es war vorbei.

Das Feuer sank herab, erlosch.

Bajo kroch zur Tür, öffnete den Riegel und stieß sie auf. Der Rauch zog ab, und der Gestank wich allmählich kühler Kellerluft. Die anderen kauerten oder lagen entkräftet auf dem Boden und schöpften Atem. Niemand sprach.

Eine halbe Stunde verstrich auf diese Weise.

Vivana war bereits bei ihrer Ankunft in Bajos Haus zu Tode erschöpft gewesen. Die Ereignisse der letzten zwei Stunden hatten ihre allerletzten Reserven aufgebraucht. Sie war so ausgelaugt, dass sie nichts empfand. Keine Erleichterung, keine Freude über ihren Sieg. Sie wollte nur noch schlafen.

Irgendwann hörte sie ein leises Stöhnen. Sie blickte zu Liam und sah, dass er sich bewegte. Mühsam richtete sie sich auf und kroch zu ihm.

Seine Lider flatterten.

»Hörst du mich?«

Er öffnete die Augen, sah sie an. Erkannte sie.

Sie hatte sich geirrt: Sie war doch noch in der Lage, etwas zu fühlen. Glück. Sie lächelte. »Liam«, sagte sie nur. »Liam.«

Sie berührte seine Wange. Er versuchte, etwas zu sagen, doch es dauerte einen Augenblick, bis sie ihn verstand.

»Nicht.«

Nicht? Sie begriff nicht, was er damit meinte, strich ihm über die Wange, den Hals.

»Hör auf«, flüsterte er.

Sie zog die Hand weg. Blickte ihn verwirrt an.

»Fass mich... nicht an«, murmelte er leise, kaum hörbar. »Bitte. Ich... ertrage das nicht.«

29

Neue Fragen und ein Abschied

Der Kanal floss so langsam, dass man die Strömung kaum wahrnahm. Auf dem moosgrünen Wasser spiegelten sich die verwitterten Ufermauern, die Pfosten eines morschen Bootsanlegestegs und das Gestrüpp, das überall zwischen den Steinen spross. Irgendwo spielten Kinder. Ihr Geschrei hallte durch die Hinterhöfe, seltsam körperlose Stimmen, die sich bald im fernen Lärm des Viertels verloren.

Vivana wusste nicht, wie lange sie schon auf der kleinen Treppe saß. Eine Stunde, vielleicht auch zwei. Ihre Finger ertasteten einen Kieselstein, sie pulte ihn aus dem Moos und warf ihn in den Kanal, wo er mit einem Platschen versank. Als Kind hatte sie sich vorgestellt, die Steine wären Taucher, die auf dem Grund des Wassers nach Schätzen suchten, und sie hatte Stunden damit zugebracht, sich Geschichten auszudenken, eine abenteuerlicher als die andere.

Wie wenig damals genügt hatte, sie glücklich zu machen.

Sie warf noch einen Stein. Noch ein Schatzsucher, der der Gefahr ins Gesicht lachte und furchtlos in die Tiefen hinabtauchte. Allmählich gingen ihr die Kiesel aus. Sie überlegte, woanders hinzugehen, ein wenig den Kanal hinauf, zum Fluss. Am Ufer könnte sie nach Süden gehen, zur Chimärenbrücke. Irgendwie sehnte sie sich danach, den Phönixturm zu sehen. Vielleicht würde ihr der vertraute Anblick das Gefühl geben, endlich zuhause zu sein.

Außerdem wollte sie weg. Vom Labyrinth, von ihrer Familie, weg von allem.

Als sie gerade losmarschierte, entdeckte sie Tante Livia. Die Wahrsagerin bog die Brombeersträucher zur Seite, die hinter Bajos Haus wuchsen, und kam auf sie zu.

»Hier bist du«, sagte sie. »Wir haben dich überall gesucht.«

»Lass mich in Ruhe. Ich muss nachdenken.«

Livia erholte sich allmählich von den Strapazen des Rituals. Sie hatte frische Kleider angezogen und wirkte nicht mehr ganz so bleich und ausgelaugt. »Liam geht es besser. Er hat nach dir gefragt.«

Vivana zog die Nase kraus. »Ach ja?«

»Ich finde, du solltest mit ihm reden.«

»Ich halte das für keine gute Idee.«

Die Wahrsagerin legte ihr die Hand auf die Wange. »Komm wenigstens ins Haus«, bat sie. »Du solltest jetzt nicht allein sein.«

»Der Dämon hatte recht«, sagte Vivana leise und musste gegen die Tränen ankämpfen. »Er hatte von Anfang an recht.«

»Es ist nicht so, wie du denkst.«

»Woher willst du das wissen? Du hast doch gehört, was Liam gesagt hat.«

»Rede mit ihm«, wiederholte die Manusch. »Reden hilft immer, glaub mir.«

Vivana folgte ihrer Tante zum Haus, obwohl sie davon überzeugt war, einen Fehler zu machen. Die Manusch hatten sich im großen Saal versammelt. Bajos Familie bildete einen Kreis um Madalin und Nedjo, die den staunenden Zuhörern von ihren Abenteuern im Pandæmonium erzählten und ihre Erlebnisse in den buntesten Farben ausschmückten. Vivana war nicht in Stimmung für ihre Fragen und mitleidigen Blicke. Sie blieb im Innenhof stehen. »Wo ist er?«

»Im Zimmer neben der Küche. Dein Vater ist bei ihm.«

Vivana ging durch die Waschküche, damit sie nicht den Saal durchqueren musste, und klopfte an der Tür des Nachbarzimmers an. Ihr Vater saß an Liams Bett. Das Gespräch der beiden verstummte, als sie hereinkam.

»Ich lasse euch dann mal allein«, sagte ihr Vater und schlurfte davon.

Liam hatte sich im Bett aufgesetzt. Er sah viel besser aus als heute Morgen. Er hatte sich gewaschen und trug einen sauberen Morgenrock von Bajo. Vivana hatte ihn richtig eingeschätzt: Er war stark. Er schien den Einfluss des Dämons ohne größere Schäden überstanden zu haben.

»Hallo Vivana.«

Als sie nichts sagte, meinte er: »Willst du dich nicht setzen?«

Sie schob die Hände in die Ärmel ihrer Weste. »Dir geht es besser, oder?«

Er nickte. »Deine Tante hat mir einen Trank gegeben. Und die andere Manusch...«