»Sieh da nicht hin«, knurrte ihr Vater und zog sie weiter. Vivana konnte sich kaum vom Anblick all dieser betrunkenen und lüsternen Menschen losreißen. In den Tavernen und Kaffeehäusern, die sie kannte, ging es immer recht gesittet zu. So eine Orgie hatte sie noch nie gesehen. Plötzlich kam sie sich sehr behütet vor.
Während sie den Saal durchquerten, bemerkte sie, dass hin und wieder jemand zu ihnen herstarrte.
»Können die Leute dich etwa sehen?«, fragte sie Lucien leise.
»Ein paar schon. Unauffälligkeit funktioniert nicht besonders gut bei Betrunkenen und Opiumsüchtigen. Es macht nichts. Mit etwas Glück halten sie mich für eine Wahnvorstellung.«
Lucien dirigierte sie durch die Rauchschwaden zu einem Gang, beleuchtet von Fackeln in rostigen Wandhalterungen. Aus einer Nische klang leises Seufzen, und Vivana erblickte ein Paar, das sich innig küsste und umarmte. »Was gibt’s da zu glotzen?«, blaffte der Mann sie an, bevor er damit fortfuhr, das Wams der Frau aufzuknöpfen.
Der verwinkelte Tunnel beschrieb, immer wieder unterbrochen von kurzen Treppen, mehrere Biegungen, sodass Vivana bald die Orientierung verlor. In den angrenzenden Kammern hielten sich Leute auf, die aus diesem oder jenem Grund ungestört sein wollten. Ein vornehm gekleideter Jüngling kauerte mit seinen beiden Begleiterinnen auf einem Lager aus Kissen und zog an einer Opiumpfeife. Eine rothaarige Alchymistin in bleifarbenen Gewändern stritt mit einem Halbwüchsigen, entriss ihm einen Beutel und verpasste ihm eine Ohrfeige.
Schließlich gelangten sie zu einem dunklen Winkel, wo sich eine Öffnung im Mauerwerk befand. Das Gitter vor dem Loch war so verrostet, dass nur noch Stümpfe von den Eisenstäben übrig waren. Nacheinander schlüpften sie hindurch und fanden sich auf einer Treppe wieder, die sich steil nach unten wand. Licht flammte auf, und vor ihnen erschien Lucien, in der Hand eine Lampe.
Der Alb übernahm die Führung und geleitete sie tiefer in die Gewölbe hinab. Das Gaslicht irrlichterte über die feuchten Wände und offenbarte ihnen flüchtige Blicke in die Säle und Tunnel, an denen sie vorbeikamen. Nachtschwarze Finsternis herrschte darin. Vivana konnte nur raten, welchem Zweck diese Kammern und Gänge einst gedient hatten, während ihr Blick die vergitterten Schächte, mächtigen Zahnräder und rostzerfressenen Kettenzüge darin streifte.
Mit jeder Treppenstufe fühlte sie sich unwohler, das Atmen fiel ihr schwer. Doch es war nicht die Dunkelheit oder die zunehmende Kälte, die ihr zu schaffen machten – Vivana konnte förmlich spüren, dass das Mauerwerk um sie herum vom Bösen durchsetzt war, von einer dunklen, unheilvollen Kraft, die den Stein wie ein verästeltes Pilzgewebe durchzog, genährt von der Lasterhaftigkeit der Spelunken und Hurenhäuser in den oberen Geschossen, wenngleich ihr Ursprung viel älter und grausiger war.
»Früher wurden in der Arena Gladiatorenkämpfe abgehalten«, erklärte Lucien, als sie ihn darauf ansprach. »Tierhetzjagden, Hinrichtungen, Gefechte Mann gegen Mann. Ein furchtbares Gemetzel, Woche für Woche, dreihundert Jahre lang. Nirgendwo im ganzen Land wurde auf so kleinem Raum so viel Blut vergossen. Das hat Spuren hinterlassen. Ein fernes Echo der Gewalt. Diese Tunnel sind voll davon.«
»Und deshalb gibt es hier ein Tor zum Pandæmonium?«
Der Alb nickte. »Solche Tore entstehen überall, wo das Böse lange Zeit am Werk gewesen ist.«
»Einfach lächerlich«, murmelte Vivanas Vater.
Seine Skepsis war Vivana unbegreiflich. »Wenn du nicht an solche Dinge glaubst, wie erklärst du dir eigentlich, dass Lucien existiert?«
»Nur weil es Schattenwesen gibt, muss ich nicht jede Schauergeschichte für bare Münze nehmen.«
»Und was ist deiner Meinung nach mit Liam geschehen?«
»Vermutlich hat er sich in einem seltenen Anfall von Vernunft aus dem Staub gemacht. Oder er ist tot«, fügte er leise hinzu.
»Ist er nicht«, widersprach sie entschieden. »Wieso sagst du so etwas?«
Ihre Stimmen hallten durch den Treppenschacht.
»Seid leise«, sagte Lucien. »Wer weiß, was sich hier unten alles herumtreibt.«
Schweigend folgten sie den uralten Stufen. Irgendwann endete die Treppe an einem Schutthaufen, wo die Wand eingestürzt war, und sie kletterten durch einen Spalt in einen weiteren Komplex aus Räumen und Gängen. Die Kammern waren so alt und verwittert, dass man nicht mehr erkennen konnte, ob sie natürlichen Ursprungs oder von Menschenhand geschaffen waren. Geometrische Formen wechselten sich mit Kurven, Bögen und wuchernden Felswülsten ab, als wäre das Mauerwerk teilweise organisch gewachsen.
Heller Staub bedeckte den Boden. Es knirschte, als Vivana einen Fuß darauf setzte, und mit leisem Grauen wurde ihr klar, dass es sich um Knochenreste handelte.
»Wir sind gleich da«, murmelte Lucien. Er schien den Weg genau zu kennen, denn obwohl es eine Vielzahl von Abzweigungen gab, ging er zielstrebig voraus.
Vivana bemerkte, dass Decken und Wände von Schlieren einer öligen Substanz überzogen waren. Sie war schwarz und sonderte einen widerwärtigen Gestank von Krankheit und Fäulnis ab.
»Was ist das?«
»Nicht anfassen«, sagte Lucien. »Das ist böse Energie. Eine ihrer Erscheinungsformen, genauer gesagt. Sie sickert aus der ganzen Stadt herein. Das Tor zieht sie an.«
Kurz darauf hob Ruac den Kopf und blickte sich wachsam um. Er besaß überaus feine Sinne. Offenbar nahm der Tatzelwurm etwas wahr, das Menschen verborgen blieb, weswegen es Vivana nicht überraschte, als Lucien schließlich stehen blieb und sagte: »Da ist es.«
Ihr Weg endete in einem nicht sonderlich großen, teilweise eingestürzten Raum.
Am oberen Ende einer kleinen Schutthalde befand sich das Tor.
Das Gestein dort ging in fleischige Stränge über, die ein knotiges Nest bildeten, eine Art Membran. Die ölige Substanz an den Wänden sammelte sich in dem Gebilde, das pulsierte wie ein Organ und die verdorbene Energie in sich aufsog.
Der Gestank war entsetzlich. Vivana musste an Siechenhäuser denken, an Folterkammern und Schlachtfelder, an Orte, wo Gewalt, Schmerz und Grauen regierten – und mit einem Mal wurde ihr der ganze Wahnsinn ihres Vorhabens bewusst. Bereits hier war die Präsenz des Bösen derart intensiv, dass sie fürchtete, davon erdrückt zu werden. Wie schrecklich würde es erst im Pandæmonium werden?
Mit belegter Stimme fragte sie ihren Vater: »Glaubst du mir jetzt?«
»Das beweist gar nichts«, erwiderte er und starrte dabei das Tor an, doch seiner Stimme fehlte die Entschiedenheit, mit der er üblicherweise seine Ansichten vorbrachte.
»Ist es offen?«, wandte sich Vivana an Lucien.
»Noch nicht.« Der Alb öffnete seinen Lederrucksack und entnahm ihm drei Gegenstände, die er auf einen Steinblock legte. »Ich habe ein paar Dinge mitgebracht, die uns hoffentlich die Suche erleichtern. Seht her.«
Es handelte sich um ein ledernes Kartenfutteral, eine Kerze und ein Brandeisen, dessen Schaft mit seltsamen Schriftzeichen versehen war.
»Das Futteral enthält eine Karte des Pandæmoniums«, erklärte Lucien. »Sie ist alt und wahrscheinlich ungenau, aber besser als nichts.«
»Wer hat sie gezeichnet?«, fragte Vivana.
»Wir sind nicht die Ersten, die ins Pandæmonium hinabsteigen. Es gab immer wieder Leute, die das versucht haben, und manchmal ist sogar jemand zurückgekehrt. Die Kerze ist verzaubert. Ihr Licht hält die verdammten Seelen fern, denen wir mit Sicherheit begegnen werden. Wir sollten also sparsam damit umgehen. Mit dem Brandeisen können wir Dämonen unseren Willen aufzwingen.« Er verstaute die Gegenstände wieder in seinem Rucksack. »Ich bewahre die Sachen auf, aber ihr solltet ebenfalls darauf achten, dass sie nicht verloren gehen. Unser Leben könnte davon abhängen. Jetzt sollten wir uns euer Gepäck vornehmen.«