»Esmeralda.«
»Sie hat meine ganzen Schrammen mit Salbe eingerieben. Ein paar Tage, dann bin ich wieder auf dem Damm.«
Sie schwiegen. Ich hätte nicht auf Livia hören sollen, dachte Vivana verdrossen. »Ich gehe jetzt besser. Du brauchst bestimmt deine Ruhe.«
»Ich bin nicht müde.«
»Bis später, Liam.«
»Warte«, sagte er. »Bleib. Bitte.«
»Du brauchst mir nichts vorzumachen. Ich komme schon damit klar.«
Es dauerte einen Moment, bis er verstand, wovon sie sprach. »Es ist wegen heute Morgen, nicht wahr? Wegen dem, was ich gesagt habe.«
Sie rollte mit den Augen und ging zur Tür.
»Es tut mir leid, Vivana. Ich wollte das nicht.«
»Du hast gesagt, du erträgst meine Berührung nicht«, fuhr sie ihn an. »Nach allem, was passiert ist.«
»Das hatte nichts mit dir zu tun.«
»Mit was dann?«
Liam suchte lange nach Worten. »Weißt du, wie das ist, wenn man einen Dämon in sich hat? Du kannst dir das nicht vorstellen. Als wäre man lebendig begraben. Ich habe mich vor mir selbst geekelt. Mein Körper hat sich angefühlt wie ein... wie ein totes Stück Fleisch.«
Vivana sah ihm an, wie sehr ihm die Erinnerung daran zu schaffen machte. »Und deshalb wolltest du mich nicht in deiner Nähe haben?«
»Ich wollte allein sein, verstehst du? Bis ich wieder wusste, wer ich bin.«
Sie setzte sich. Plötzlich kam sie sich kleinlich und egoistisch vor. Sie hatte nur an ihre eigenen Wünsche gedacht und sich kein einziges Mal gefragt, wie er sich fühlte, nach all dem Leid, das er erfahren hatte. »Und jetzt weißt du es wieder?«
»Es wird besser.« Dabei drehte er seine Hand von einer Seite auf die andere und betrachtete sie, als frage er sich, ob sie wirklich Teil seines Körpers war.
Vivana starrte ihre Schuhe an. Sie konnte Liam nicht ansehen. Ihre Gefühle für ihn waren noch zu verwirrend, zu widersprüchlich. Sie räusperte sich. »Kurz, nachdem wir dich gefunden haben, hat der Dämon etwas zu mir gesagt. Dass du nichts für mich empfinden würdest... Und dass du nur so getan hättest, damit ich dir helfe.«
»Er hat gelogen.«
»Aber er hat geklungen wie du.«
»Ich liebe dich«, sagte Liam schlicht. »Egal, was der Dämon gesagt hat.«
Und seine Hand fand ihre, hielt sie fest.
Vivana wollte ihn in die Arme schließen, ihn küssen. Sie spürte jedoch, dass er noch nicht so weit war, dass er Zeit brauchte. Deshalb blieb sie neben ihm sitzen und hielt seine Hand, und es genügte ihr.
Ich liebe dich.
Nach einer Weile fragte Liam: »Was ist im Palast passiert, nachdem Seth mich angegriffen hat?«
»Lucien hat Aziel verletzt. Er und Seth sind verschwunden. Als sie weg waren, haben die Spiegelmänner die Ghule in die Flucht geschlagen.«
»Was ist mit Jackon? Hat er überlebt?« »Ich weiß es nicht. Lady Sarka hat ihn zu ihrem Leibarzt bringen lassen. Ob er es geschafft hat – keine Ahnung. Lucien und ich sind gleich am nächsten Tag zum Tor gegangen.«
Liam kaute nervös auf der Lippe. Offenbar machte er sich Sorgen um Jackon. Der Rothaarige und er waren enge Freunde gewesen.
Plötzlich weiteten sich seine Augen. »Das Buch! Wo ist es?«
»Keine Angst, wir haben es gefunden. Es ist in meiner Tasche. Vater passt darauf auf.«
»Tessarion sei Dank«, murmelte er erleichtert.
»Kannst du dich an gar nichts mehr erinnern, was im Pandæmonium passiert ist?«, fragte Vivana.
»Das Letzte, was ich weiß, ist, dass der Dämon aufgetaucht ist. Danach wird es... verschwommen. Ich war ein Gefangener in meinem eigenen Körper. Manchmal habe ich Stimmen gehört und Dinge gesehen. Aber vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet.«
»Reden wir nicht mehr davon, in Ordnung?«
»In Ordnung«, sagte Liam, allerdings schien es ihm schwerzufallen, sich von den Erinnerungen zu lösen. »Ich frage mich, was aus Seth wurde. Meinst du, er weiß, dass ich noch mal davongekommen bin?«
»Seth ist tot«, erwiderte Vivana.
Überrascht blickte er sie an.
»Wir haben ihn im Pandæmonium getroffen. Es kam zum Kampf, und wir haben ihn getötet.« Sie verschwieg ihm, dass sie es war, die den Incubus erschossen hatte. Die Manusch mochten das für eine Heldentat halten, sie selbst war nicht gerade stolz darauf.
»Ich muss zugeben, dass ich darüber nicht gerade unglücklich bin.« Liam verzog den Mund. »Kein schöner Zug von mir, was?«
»Er war ein Dämon. Er verdient kein Mitleid.« Nicht einmal zwei Wochen war es her, dass sie entsetzt gewesen war, als Lucien etwas ganz Ähnliches zu ihr gesagt hatte. Das Pandæmonium hatte sie verändert, hatte sie härter gemacht. Vivana wusste nicht, ob sie dagegen ankämpfen oder sich einfach damit abfinden sollte. Aber vermutlich hatte sie gar keine Wahl. Es war zu viel geschehen. Es gab kein Zurück mehr.
In diesem Moment klopfte es, und Lucien kam herein. »Störe ich?«
Vivana schüttelte den Kopf.
»Kannst du aufstehen?«, wandte sich der Alb an Liam.
»Sicher.«
»Gut. Dann kommt in den Saal. Wir müssen einiges besprechen.«
Liam war noch unsicher auf den Beinen. Er ergriff Vivanas Hand, während sie nach draußen gingen. Als sie den Saal betraten, richteten sich alle Augen auf ihn. Bajos Leute, aber auch Madalins Brüder, empfanden sichtliches Unbehagen in seiner Gegenwart. Die Manusch fürchteten Dämonen mehr als alles andere. Es würde eine Weile dauern, bis sie eingesehen hatten, dass von Liam keine Gefahr mehr ausging.
Auf den Tischen standen Krüge mit Ale und Platten mit Brot, Käse und Fleisch. Der Bratenduft erinnerte Vivana an den Geruch des verbrannten Herzens, und ihr verging augenblicklich der Appetit.
»Setzt euch«, sagte Livia. »Bajo hat Neuigkeiten für uns.«
Sie nahmen an dem Tisch Platz, an dem Vivanas Familie saß.
»Während ihr fort wart, sind in Bradost merkwürdige Dinge geschehen«, begann Bajo. »Fast jeder wird Nacht für Nacht von beunruhigenden Träumen heimgesucht. Viele haben seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen. Ihr solltet mal sehen, was auf den Straßen los ist. Die Leute sind so gereizt, dass es ständig zu Schlägereien kommt. Und es wird immer schlimmer. Allein im Labyrinth haben in der vergangenen Woche vier Leute den Verstand verloren, darunter auch der alte Mica, den ihr alle kennt. Die Schlaflosigkeit hat den armen Kerl in den Wahnsinn getrieben. Aus anderen Vierteln hört man Ähnliches. Die Irrenanstalt auf der Krähenhöhe platzt allmählich aus allen Nähten.«
Nun, da Bajo davon sprach, fiel Vivana auf, dass der Manusch und einige Mitglieder seiner Familie übernächtigt wirkten. Offenbar litten sie selbst unter dem Phänomen, das er schilderte.
Aus Luciens Gesicht sprach tiefe Besorgnis. »Beunruhigende Träume? Inwiefern?«
»Sollte ein Alb nicht am besten über diese Dinge Bescheid wissen?«, fragte Bajo verwundert.
»Gehen wir der Einfachheit halber davon aus, dass ich so viel oder so wenig weiß wie ihr«, meinte Lucien.
»Unsere Wahrsager haben versucht herauszufinden, was es damit auf sich hat«, fuhr Bajo nervös fort. »Sie haben Schattenwesen befragt und die Zeichen gedeutet. Sie sind sich einig, dass Lady Sarka dahintersteckt.«
»Das wissen wir bereits«, sagte Tante Livia. Sie hatte schon vor Wochen gespürt, dass es Veränderungen in der Schattenwelt gab, und sich in den vergangenen Tagen ausgiebig mit Lucien darüber ausgetauscht. »Sie hat den Harlekin befreit und ihm geholfen, gegen Aziel zu rebellieren. Die Träume sind in Unordnung, weil Luciens Volk unsere Welt verlassen hat und niemand mehr da ist, der auf sie aufpasst.«
»Das dachten wir auch zuerst«, erwiderte Bajo. »Leider ist es noch schlimmer. Die Wahrsager behaupten, dass Lady Sarka die Herrschaft über die Träume an sich gerissen hat.«