30
Vorod Khoroj
Stimmen weckten Vivana. Sie stellte fest, dass sie zusammengekauert im Ledersessel lag. Sie war zu müde gewesen, ins Bett zu gehen, und vor dem Kamin in ihren Kleidern eingeschlafen.
Das Feuer war längst erloschen; graues Tageslicht drang durch die Fenster. Verschlafen setzte sie sich auf, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und spähte aus verquollenen Augen über die Sessellehne.
Madalin, Livia und die Kinder kamen herein. »Du bist ja wach«, sagte ihre Tante. »Komm, ich habe uns Frühstück gemacht.«
»Wie spät ist es?«
»Nach acht. Die anderen sind auch gerade erst aufgestanden.«
Sie hatte mehr als vierzehn Stunden geschlafen. An ihre Träume konnte sie sich kaum erinnern. Sie hatte von Liam geträumt und vom Phönixturm, aber mit der Zeit war es immer wirrer geworden. Vielleicht erging es ihr nun so wie Bajo und seinen Leuten. Ihr Schlaf war jedenfalls nicht so erholsam gewesen, wie er nach vierzehn Stunden hätte sein müssen. Aber immer noch erholsamer als im Pandæmonium, sodass sie sich einigermaßen ausgeruht fühlte.
Sie setzte sich. »Habt ihr es auch gemerkt? Du weißt schon...« Sie suchte nach einem passenden Wort.
»Die Traumstörungen? Ich nicht. Madalin schon«, antwortete Livia. »Nedjo und Sandor sind sich nicht sicher. Dass man nach allem, was passiert ist, seltsame Träume hat, ist schließlich kein Wunder. Und du?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Komisch, dass es nicht jeden betrifft.«
Ihre Tante half Dijana, Butter auf ein Brot zu schmieren. »Abwarten. Nach einer Nacht ist das schwer einzuschätzen.«
Schweigend aß Vivana ihr Frühstück. Was geschah mit einer Welt, in der niemand mehr richtig träumte? Wenn Lucien Recht behielt, würde dieser Zustand bald eintreten – und niemand konnte etwas dagegen tun. Gewöhnte man sich irgendwann daran? Oder würden immer mehr Menschen wahnsinnig werden, so wie der arme alte Mica? Sie versuchte, sich vorzustellen, was dann geschehen würde, aber es gelang ihr einfach nicht. Die Gefahr war zu abstrakt, zu schwer zu fassen – was sie bedrohlicher machte als Dämonen und Spiegelmänner.
Die Zuversicht, die sie gestern Abend verspürt hatte, war jedenfalls restlos verflogen.
»Wo ist mein Vater?«, fragte sie.
»Er wird gleich kommen, nehme ich an«, antwortete Tante Livia.
»Ist er gestern Abend bei dir gewesen?«
»Ja, ist er.«
»Und?«
»Nun, wir haben geredet. Lange.«
»Also habt ihr endlich Frieden geschlossen.«
»Ein Anfang ist gemacht, ja.«
»Ein Anfang?«
»Zwischen uns ist viel vorgefallen, Vivana. Du kannst nicht erwarten, dass wir das von heute auf morgen aus der Welt schaffen.«
»Worüber habt ihr denn geredet?«
»Vor allem über deine Mutter.«
Das hatte Vivana insgeheim erhofft. Tante Livia warf ihrem Vater seit Jahren vor, er wäre verantwortlich für den frühen Tod ihrer Mutter – Livias Schwester –, was die Hauptursache dafür gewesen war, dass sich ihr Verhältnis stetig verschlechtert hatte. »Was hat er gesagt?«
»Ich bin sicher, er möchte nicht, dass ich das erzähle.«
»Sag wenigstens, ob du ihretwegen immer noch wütend auf ihn bist.«
Zögernd antwortete Livia: »Ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich ihm unrecht getan. Deine Mutter hatte immer eine Wahl. Sie hätte ihn verlassen und zu uns kommen können. Aber sie wollte in Bradost bleiben, bei ihm. Er hat sie zu nichts gezwungen.«
»Was damals passiert ist, tut ihm leid. Er hat sie wirklich geliebt.«
»Ja«, meinte die Wahrsagerin. »Ja, das glaube ich auch.«
Sie konnten das Gespräch nicht fortsetzen, denn in diesem Moment kam ihr Vater und setzte sich zu ihnen. Unauffällig beobachtete Vivana ihn und Livia. Die unterschwelligen Spannungen zwischen ihnen, die Ursache so vieler Auseinandersetzungen, waren verschwunden. Wo gegenseitige Abneigung gewesen war, herrschte nun Respekt. Livia irrte sich: Das war mehr als ein Anfang, viel mehr. Noch vor zwei Wochen hätte Vivana niemals zu hoffen gewagt, dass die beiden einmal an einem Tisch sitzen könnten, ohne zu streiten. Das half ihnen vielleicht nicht gegen die Gefahren, die vor ihnen lagen – ganz gewiss aber machte es Vivanas Leben ein wenig einfacher.
Nach und nach tauchten auch die anderen auf. Liam war der Letzte, der am Frühstückstisch erschien. Er erzählte, Albträume hätten ihn die ganze Nacht geplagt. Trotzdem wirkte er wesentlich frischer und kräftiger als gestern und fühlte sich im Stande, mit zu Vorod Khoroj zu gehen.
»Wo sind Bajo und seine Leute?«, erkundigte er sich.
»Außer Haus, alle außer Esmeralda und den Kindern«, antwortete Tante Livia. »Bajo ist es lieber, wenn er nicht allzu viel über unsere Pläne weiß. Und mir auch. Ich möchte ihn da nicht hineinziehen.«
Unsere Pläne... Diese beiden Worte erinnerten Vivana daran, dass sie im Begriff waren, etwas sehr Gefährliches zu tun. Das Gelbe Buch von Yaro D’ar hatte Liams Vater das Leben gekostet – und er hatte nur danach gesucht. Sie aber hatten es gestohlen und versuchten nun, es zu entziffern. Es gab nicht den geringsten Zweifel, was mit ihnen geschehen würde, wenn man ihnen auf die Schliche kam.
»Wo wohnt dieser Vorod Khoroj?«, wollte Madalin wissen.
»Sein Haus befindet sich irgendwo in der Rodismündung«, antwortete Vivanas Vater.
Liam runzelte die Stirn. »In der Mündung?«
»Wenn du es siehst, wirst du es verstehen.« Das Gesicht des Erfinders wirkte an diesem Morgen noch zerfurchter als sonst. »Wir wissen immer noch nicht, ob die Geheimpolizei nach Vivana und mir sucht. Deshalb sollten wir zusehen, dass wir unbemerkt hinkommen.«
»Warum sollten sie nach euch suchen?«, fragte Liam alarmiert.
Vivana unterdrückte ein Seufzen. Ihr Vater war einfach nicht davon abzubringen. »Umbra hat mir ein paar Fragen gestellt, in der Nacht nach dem Ghulangriff, als alles vorbei war. Mein Vater glaubt, dass sie etwas ahnt. Aber sie weiß nichts.«
»Bist du da ganz sicher?«
»Ja! Jetzt fang du nicht auch noch an.«
»Trotzdem sollten wir tun, was dein Vater sagt«, meinte ihre Tante. »Sicher ist sicher. Immerhin haben wir das Buch bei uns.«
»Fahrt mit dem Boot«, schlug Madalin vor. »Auf dem Fluss kontrolliert euch niemand. Bajo hat sicher nichts dagegen, wenn ihr seins nehmt.« Nach einem Moment des Zögerns wandte er sich an Livia: »Und nimm etwas javva mit. Man kann nie wissen.«
Reglos kauerte Liam am Bug des kleinen Bootes, das Gesicht im Wind und die Haut klamm vor Kälte. Eine Hand dicht über dem Wasser, sodass seine Fingerkuppen die Bugwellen streiften, die andere auf dem feuchten Holz der Bank. Es regnete nicht mehr. Tropfen rannen am Saum seiner Kapuze herab und perlten über den schweren Filzumhang.
Er hatte vergessen, wie Flusswasser roch. Wie das ewige Summen und Raunen der Stadt klang. Wie es sich anfühlte, wenn einem der Wind durch das Haar pflügte. All das hatte er vergessen, während er in seinem eigenen Körper gefangen gewesen war, eingehüllt von der Bosheit des Dämons und abgeschnitten von jeder Empfindung. Eine Marionette aus Fleisch und Knochen. Lebendig und doch tot.
Ein Brummen erklang, vertraut und zugleich neu und fremd. Er hob den Kopf und entdeckte ein Luftschiff, das über den Bleidächern am Südufer erschien und nordwärts fuhr, gefolgt von einem Schweif aus blassgoldenem Aetherdampf. Er blickte ihm nach, bis es im Dunst und Rauch des Kessels verschwand. Er lechzte nach Bildern, nach Geräuschen und Gerüchen, nach jedem noch so kleinen Sinneseindruck. Dem Prasseln eines Kaminfeuers. Dem Glitzern des Sonnenlichts auf einer Fensterscheibe. Dem Duft einer Karotte, an der noch Erde klebte. Mit jeder Empfindung, die er auskostete, kehrte die Erinnerung zurück, die Erinnerung daran, wie es war, ein Mensch zu sein. Und doch wusste er, dass es noch viele Tage dauern würde, bis er die Nachwirkungen der Besessenheit endgültig abgeschüttelt hatte. Zu machtvoll, zu erdrückend war die Präsenz des Dämons gewesen.