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Sie ließen sich von der Strömung treiben. Quindal saß an den Rudern, benutzte sie jedoch nur, um das Boot in der Mitte des Flusses zu halten und den Lastkähnen und Schaufelbarken auszuweichen, die ihnen dann und wann entgegenkamen. Für Liam war die Fahrt den Rodis hinab wie eine Reise durch die Zeit, durch die vergangenen Wochen und Monate. Da war der Magistrat, wo er bei Lady Sarka vorgesprochen hatte, um Arbeit im Palast zu bekommen. Dort der Eingang zur Alten Pumpstation, wo Quindal und er Geheimnisse getauscht hatten. Auf der anderen Seite des Flusses der Phönixturm, dessen laternenartige Spitze die Stadthäuser und Kamine überragte. Es erschien ihm wie gestern, dass Vivana und er vor dem Aufruhr geflohen waren und Schutz in einer menschenleeren Gasse gesucht hatten. In jener Nacht war ihm klar geworden, was er für sie empfand, dass er ihr mehr vertraute als jedem anderen Menschen. Eine glückliche Erinnerung. Eine der wenigen in den letzten Monaten.

Und dann war da noch die Sternwarte von Scotia, sein Zuhause. Lange haftete sein Blick an der regennassen Eisenkuppel auf dem Hügel am Flussufer, und alles fiel ihm wieder ein. Corvas und die Spiegelmänner. Der Tod seines Vaters. Seine Flucht. Hier hatte alles angefangen, hier hatte er zum ersten Mal von dem Gelben Buch gehört. Und heute würde er endlich erfahren, wonach sein Vater gesucht hatte, wofür er bereit gewesen war, sein Leben zu geben.

Vivana bemerkte seinen Blick und setzte sich neben ihn, nahm seine Hand. Sie sagte nichts, musste nichts sagen. Ihre Nähe genügte, seine Trauer zu lindern.

Eine Viertelmeile, nachdem sie die Chimärenbrücke passiert hatten, zog Quindal die Ruder ein und starrte zum Nordufer, zu den Manufakturen des Kessels.

»Du denkst an deine Werkstatt, nicht wahr?«, erkundigte sich Vivana behutsam.

»Ich frage mich, ob sie noch meine Werkstatt ist«, erwiderte der Erfinder. »Wir waren lange fort. Wenn die Geheimpolizei uns zu Verrätern erklärt hat, wie ich befürchte, hat Lady Sarka die wissenschaftliche Leitung vermutlich schon vor Wochen einem ihrer Hampelmänner aus dem Magistrat übertragen«, fügte er düster hinzu.

Vivana hatte Liam von den Befürchtungen ihres Vaters hinsichtlich des Gelben Buches und der Nacht des Ghulangriffs berichtet. »Das glaube ich nicht«, sagte er. »Wenn es so wäre, hätte Bajo uns gewarnt.«

»Bajo ist nicht allwissend. Ich muss mit Godfrey reden, wenn wir bei Vorod fertig sind. Wenn einer weiß, wie die Dinge liegen, dann er.«

»Wer ist Godfrey?«

»Ein alter Freund von Vater«, antwortete Vivana. »Du hast ihn schon mal gesehen. Verwandelt sich immer in Aether.«

Liam erinnert sich wieder. Godfrey war ein ehemaliger Mitarbeiter von Quindal. Er hatte sich bei einem Unfall auf bizarre Weise verändert und sich daraufhin in den Untergrund zurückgezogen. Seine Kräfte und weit verzweigten Kontakte nutzte er, um Quindal mit Informationen zu versorgen.

Mit grimmiger Miene griff der Erfinder erneut nach den Rudern und begann, sie gleichmäßig durchzuziehen. Seine mechanische Hand gab bei jeder Bewegung klickende und surrende Geräusche von sich.

»Dieser Vorod Khoroj«, meinte Vivanas Tante nach einer Weile, »was ist das für ein Mann?«

»Ich kenne ihn seit mehr als dreißig Jahren«, sagte Quindal. »Wir waren zusammen auf der Akademie. Er ist Aetherhändler. Ich habe ihn länger nicht gesehen, aber ich weiß, dass er immer noch in Bradost lebt.«

»Und er stammt aus Yaro D’ar?«

»Aus Vavanodii, der Hauptstadt. Er ist der jüngste Sohn einer angesehenen Familie. Er kam als junger Student nach Bradost.«

»Und er ist wirklich verschwiegen?« Liam war nicht wohl dabei, das Buch einem Fremden zu zeigen.

»So verschwiegen, wie man nur sein kann. Dein Vater kannte ihn übrigens auch. Er hat Vorod damals in seine Pläne eingeweiht.«

»Khoroj war Mitglied der Verschwörung?«, fragte Liam überrascht.

Quindal nickte schweigend. Auch er hatte der Gruppe um Liams Vater angehört, allerdings war dies ein Kapitel seines Lebens, über das er nicht gerne sprach.

Jenseits der Grambeuge wurde der Fluss breiter. Bleigraue Wellen schlugen gegen die Hafenmauern. Dreimastige Klipper und Hochseebarken lagen an den Kais vor Anker und wurden von aetherbetriebenen Kränen be- und entladen. Eine goldene Dunstglocke hing über den Steilklippen im Westen, wo sich die Aetherküchen befanden. In der Ferne war das Meer zu sehen. Eine Mole aus aufgeschütteten Steinbrocken schützte den Hafen vor der rauen Brandung.

Liam war mit seinem Vater einige Male im Hafenviertel gewesen, aber noch nie so weit draußen in der Mündung des Rodis. Gespannt hielt er nach Vorod Khorojs Haus Ausschau. Stand es auf einer Insel? Allerdings waren sämtliche Eilande in der Flussmündung zu klein, um darauf ein Gebäude zu errichten.

Schon vor einer Weile hatten sie die Fahrrinne für die großen Schiffe verlassen. Quindal ruderte zu einer Klippe in der Nähe der Steilküste und umfuhr die Felsen in einem weiten Bogen.

Dahinter kam ein Palast zum Vorschein.

Liam blinzelte und fragte sich, ob ihm seine Augen einen Streich spielten. Das Gebäude stand auf dem Wasser. Erst einen Moment später begriff er, dass es schwamm. Zwei Dutzend oder mehr Fässer aus poliertem Blech, jedes so groß wie eine Droschke, trugen eine runde Plattform, die einen Durchmesser von mindestens dreißig Schritt aufwies. Mehrere Messingmotoren, aetherbetriebene Stabilisatoren, glichen den Wellengang aus. Schwere Ankerketten sorgten dafür, dass die Plattform nicht abtrieb.

Das Haus, das darauf stand, war eines der prächtigsten und zugleich seltsamsten Gebäude, die Liam je gesehen hatte. Es schien gänzlich aus kostbarem Ebenholz und schimmerndem Messing zu bestehen und hatte eine verwinkelte, aber symmetrische Grundform. Es gab nur ein Stockwerk; sieben gleichmäßig angeordnete Kuppeln, mit Blattgold versehen, bildeten das Dach. Gezwirbelte Säulen aus Porphyr standen vor den Eingangstüren, die wie die Brüstung der Plattform mit kunstvollen und verschlungenen Schnitzereien versehen waren. Schwere Vorhänge aus weinrotem Tuch hinter den Fenstern verwehrten den Blick ins Innere.

Zwei geschwungene Freitreppen führten hinauf zu einer Terrasse. Dort ankerte ein kleines Luftschiff mit goldener Hülle, dessen Passagiergondel dieselben ungewöhnlichen Formen wie das Haus aufwies.

Die Gefährten schwiegen überwältigt. Liam erinnerte sich, dass er vor Jahren ein Buch über die südlichen Reiche gelesen hatte. Darin hieß es, die Menschen von Yaro D’ar lebten in schwimmenden Städten, die Tausende Bewohner aufnehmen konnten. Wie es schien, wohnte Vorod Khoroj in einer kleinen Nachbildung jener riesigen Stadtflöße.

Quindal ruderte zum Anlegesteg, an dem ein kleiner Kahn auf den Wellen schaukelte. Zwei goldene Mantikorfiguren bewachten die Treppe zur Plattform.

Als der Erfinder das Boot festband und sie ausstiegen, erschien zwischen den Statuen ein Ungeheuer.

Das Wesen hatte einen muschelförmigen Kopf aus einer kupferartigen Substanz mit einem Schlitz für die Augen, und rote Flügel bauschten sich hinter ihm auf. Keine Flügel – ein Umhang, dachte Liam, als ihm klar wurde, dass er einen Mann vor sich hatte – allerdings einen überaus seltsam gekleideten Mann. Unter dem Umhang trug er einen lackierten Brustpanzer, einen knielangen Kettenschutz sowie hohe Stiefel, und was Liam für einen monströsen Kopf gehalten hatte, war ein Helm. Am Gürtel des Wächters hingen ein Säbel und eine Pistole. Wie alles hier waren auch die Waffen ungewöhnlich und kunstvoll geformt.