Ein zweiter Wächter trat neben ihn. Er hielt eine Lanze mit gezackter Spitze in der behandschuhten Faust.
»Mein Name ist Nestor Quindal«, sprach Vivanas Vater die Männer an. »Ich bin ein Freund eures Herrn. Bringt mich zu ihm.«
Schweigend führten die beiden Wächter sie zum Haus.
Sie betraten den Eingangsraum, dessen Pracht Liam schier überwältigte, wenngleich sie zurückhaltender Natur war und nichts Pompöses an sich hatte. Das warme Licht der Alabasterlampen fiel auf kostbare Möbel und Stützpfeiler und Teppiche mit verschlungenen Linien und Mustern. Das Holz der Wände war so bearbeitet, poliert und lackiert worden, dass seine Maserung zur Geltung kam und sich in die weichen Formen der Architektur einfügte. Es duftete nach Sandelholz.
Einer der Wächter verschwand im angrenzenden Zimmer. Kurz darauf kehrte er zurück und wies mit ausgestreckter Hand auf den Durchgang. Liam und seine Gefährten traten ein.
Es handelte sich um den Hauptraum des schwimmenden Palasts, um einen kleinen Saal, der unter der zentralen Kuppel lag. Zwei Lampen brannten und ließen die Messingknäufe von Schränken und Truhen und die geschliffenen Kelche in einer Ebenholzvitrine glitzern. Vorhänge aus roten und orangefarbenen Stoffen trennten die Nachbarzimmer ab.
Einer davon teilte sich, als ein Mann hereinkam. Wie die Wächter war er in farbenfrohe Kleider gehüllt, in eine Art Cape, das auf komplizierte Weise um seinen Körper geschlungen war. Goldene Stickereien befanden sich am Saum und an den Ärmelaufschlägen.
»Nestor«, sagte er lächelnd. »Welche Überraschung. Lass dich umarmen, alter Freund.«
Vorod Khoroj war ein mittelgroßer Mann von schlanker, beinahe graziler Gestalt und mit einem anmutig geschnittenen Gesicht. Das schwarze Haar hatte er an der linken Schläfe zu einem Knoten gebunden, wie es bei seinem Volk Sitte war. Seine bronzene Haut bildete einen seltsamen Gegensatz zu seinen Augen, deren Farbe sich nicht eindeutig bestimmen ließ. Liam war, als würde sie beständig wechseln, je nachdem, wie sie das Licht einfingen.
Dunkle Schatten unter seinen Augen zeugten davon, dass auch er unter den Traumstörungen litt.
Ein seltenes Lächeln huschte über Quindals Gesicht, als er seinen Freund in die Arme schloss. »Das sind Liam Satander, Livia, meine Schwägerin, und Vivana, meine Tochter«, stellte er seine Begleiter vor.
Khoroj verneigte sich vor ihnen, was jedoch nicht im Mindesten unterwürfig wirkte, sondern elegant und freundlich. »Du hast großes Glück, Nestor.« Er sprach mit einem weichen Akzent. »Deine Tochter ist eine wunderschöne Perle und ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich beglückwünsche dich.«
Vivana errötete verlegen.
»Bitte, nehmt Platz«, fuhr der Südländer fort. »Es ist lange her. Zwei Jahre, wenn ich mich recht erinnere. Lass uns reden.«
Sie setzten sich um einen niedrigen Tisch, auf dem ein Teeservice bereitstand. Einer der Wächter brachte ein Tablett mit einer dampfenden Kupferkanne in Form eines Kranichs, bevor er sich mit seinem Gefährten zurückzog. Khoroj schenkte ihnen ein. Liam nippte an seiner Tasse und stellte fest, dass der Tee so ähnlich schmeckte wie Korkas, das Getränk der Manusch.
»Erzähl«, sagte Quindal. »Wie laufen deine Geschäfte?«
»Wechselhaft«, antwortete Khoroj. »Zwar steigt die Aethernachfrage von Jahr zu Jahr, aber die Lage in der Stadt wird immer schwieriger. Überall Geheimpolizisten und Spiegelmänner, sogar in der Börse. Vergangenen Monat wurden zwei meiner Leute verhaftet, beide grundehrliche Männer. Und weißt du, warum? Weil sie Steine nach einer Krähe geworfen haben. Bei Assamiras Blitzen! Ich musste zwei der teuersten Advokaten beauftragen, um sie aus dem Gefängnis zu holen. Es ist schändlich, was Lady Sarka aus Bradost macht. Wenn das so weitergeht, werde ich die Stadt verlassen und nach Torle ziehen.« Mühsam unterdrückter Zorn ließ Khorojs Hand zittern, und er stellte seine Tasse auf den Untersetzer.
Liam wusste, wie gefährlich es war, so offen zu sprechen. Quindal und Khoroj mussten einander wirklich vertrauen.
»Und du?«, fragte der Südländer. »Ich habe beunruhigende Gerüchte gehört. Ein Aethermakler hat erzählt, du seist verschwunden.«
»Ja. In gewisser Weise stimmt das.«
»Ärger?«, erkundigte sich Khoroj besorgt.
Quindals Gesicht nahm einen düsteren Ausdruck an. »Erinnerst du dich noch an das Treffen in meinem Haus? Wir haben uns damals geschworen, einander beizustehen, wenn einer von uns in Schwierigkeiten gerät.«
»Natürlich.«
»Deswegen bin ich hier. Weil ich deine Hilfe brauche.«
»Ich werde tun, was ich kann«, sagte der Kaufmann, ohne zu zögern. »Nun sag mir – was ist geschehen?«
»Vielleicht ist es besser, wenn Liam erzählt«, erwiderte Quindal. »Er ist Fellyns Junge.«
Überrascht blickte Khoroj Liam an. »Liam Satander, natürlich. Bitte vergib mir, dass ich dich nicht gleich erkannt habe.« Seine Augen verdunkelten sich. »Ich habe gehört, was deinem Vater zugestoßen ist. Er war mir ein guter Freund, und sein Mut war uns allen ein Vorbild. Ich trauere mit dir.«
Einmal mehr wurde Liam bewusst, wie viele Geheimnisse sein Vater all die Jahre gehütet hatte. Er hatte nie von einem Freund namens Vorod Khoroj gesprochen.
»Fellyn hat nie aufgegeben«, sagte Quindal. »Er war einem alten Buch auf der Spur, das offenbar etwas mit dem Phönix oder mit Lady Sarka zu tun hat. So genau wissen wir das nicht. Nach seinem Tod hat Liam weitergemacht und das Buch gefunden. Aber es ist besser, er erzählt selbst.«
Liam schluckte nervös. Er hätte seine Geschichte lieber für sich behalten. Nur weil Quindal dem Südländer vertraute, hieß das nicht, dass er das ebenfalls tun sollte. Aber er hatte keine Wahl. Sie waren auf Khorojs Hilfe angewiesen.
In wohl überlegten Worten erzählte er vom Tod seines Vaters und wie Quindal ihn in den Palast Lady Sarkas eingeschleust und er nach vielen Rückschlägen schließlich das Buch an sich gebracht hatte. Das Pandæmonium, das javva und viele andere Einzelheiten ließ er weg – Khoroj musste nicht alles wissen.
»Jetzt brauchen wir jemanden, der in der Lage ist, das Buch zu lesen«, schloss er seinen Bericht. »Wir haben gehofft, dass Sie uns dabei helfen können.«
Khoroj schwieg lange. Er rieb seine schlanken Hände, während er über Liams Geschichte nachdachte. »Habt ihr das Buch dabei?«, fragte er schließlich. »Dürfte ich es sehen?«
Vivana öffnete ihre Ledertasche und legte den Folianten auf den Tisch.
Ehrfürchtig fuhr der Kaufmann mit den Fingerkuppen über den Einband. »Ein altes Buch, nicht wahr?«
»Sehr alt und sehr mächtig«, bestätigte Vivanas Tante.
Khoroj schlug es auf, und sein Blick wanderte über die Zeilen. »Schwierig«, murmelte er nach einer Weile.
»Kannst du es lesen?«, fragte Quindal.
»Das schon. Aber es ist ein alter Dialekt, und der Text handelt von Dingen, von denen ich nichts verstehe. Zauberei. Beschwörung. Nigromantie. Nicht leicht, das zu übersetzen.«
»Dafür bin ich da«, sagte Livia. »Ich kenne mich damit aus.«
Khoroj musterte die Manusch und nickte dann. »Gut. Lasst uns gleich beginnen. Ich hole nur rasch Papier und bitte die Diener, meine Termine abzusagen. Ich schätze, wir werden viele Stunden brauchen.«
31
Antworten
Das Wummern der Pumpstation hallte durch die Dunkelheit wie das Pochen eines Herzens, wie das Pulsieren eines gewaltigen Organs. Immer leiser wurde es, während Lucien in die Tunnel unter der Grambeuge hinabstieg, bis es sich schließlich in der Ferne verlor. Ewige Stille herrschte in den Katakomben so weit unter der Stadt, nur gestört vom Hallen seiner Schritte. Lucien wusste jedoch, dass er nicht allein war, und er rieb mit dem Daumen über den Griff seiner Karbidlampe, bereit, sie beim kleinsten Laut aufzudrehen.