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Es war ein unheimliches Reich, durch das er wanderte, eine lichtlose Welt voller Gefahren. Hinter jeder Gangbiegung konnte ein bodenloser Schlund gähnen oder der Tod in Gestalt von Klauen und Fangzähnen lauern. Und wer nicht auf seine Schritte achtete, verirrte sich unweigerlich in den endlosen Hallen und Korridoren, die sich viele Meilen weit erstreckten. Nicht einmal Lucien wusste, wer diese Tunnel angelegt hatte. Das Ganggeflecht dicht unter den Kanälen bestand aus alten Kellergewölben, aus vergessenen Zisternen, Fluchtgängen und Werkhallen. Doch je tiefer man hinabstieg, desto fremdartiger wurde die Bauweise, und der ursprüngliche Zweck der Stollen blieb einem verborgen.

Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte er gemeinsam mit Aziel den Kerker des Harlekins besucht. Jetzt nahm er einen anderen Weg, folgte einer Rampe tief hinunter in das Felsenfundament der Stadt, obwohl er sich einst geschworen hatte, niemals einen Fuß in diese Tunnel zu setzen.

Zu seiner Linken befand sich Mauerwerk, so alt und verwittert, dass man es kaum von gewachsenem Fels unterscheiden konnte. Zu seiner Rechten klaffte ein Abgrund, aus dem eisige Luft heraufwehte. Seine Augen waren geschaffen für die Nacht, dennoch vermochten sie die Finsternis nicht völlig zu durchdringen. Hier und da erahnte er einen Pfeiler, einen bröckelnden Vorsprung, vielleicht die Überreste einer Brücke; dann wieder war die Schwärze so kompakt wie eine Wand.

Irgendwann gelangte er in einen Saal voller Säulen. Knochenreste splitterten unter seinen Stiefelsohlen. Er blieb stehen und lauschte.

Ein unverwechselbarer Gestank stieg ihm in die Nase. Rasch machte er sich an der Lampe zu schaffen. Im gleichen Moment hörte er Stimmen.

Fleisch...

Warmes Blut...

Sein Herz, wisperten sie. Hört es schlagen, hört es pochen.

Licht glomm in der Lampe auf, wurde heller und heller, schälte verwesende Leiber, zerlumpte Kleidung, eingefallene Gesichter aus der Dunkelheit. Die Ghule kamen hinter Pfeilern und Schutthaufen hervor, kletterten aus Schächten, krochen aus Felsspalten heraus, mindestens ein Dutzend. Sie fauchten und krächzten, als der Lampenschein sie blendete, wichen zurück und umringten Lucien im Abstand von einigen Schritten.

Wagt es, die Dunkelheit zu stören!

Verschwinden soll er!

Ja, verschwinden!

Langsam drehte sich Lucien im Kreis und hob die Lampe, sowie es einer der Ghule wagte, sich ihm zu nähern. Seine Rechte lag auf dem Knauf seines Wurfmessers. Er kniff die Augen zusammen. Auch ihm machte das helle Licht zu schaffen.

»Ihr wisst, wer ich bin«, sagte er. »Im Palast der Lady habe ich einige von euch getötet. Bleibt mir vom Leib, und euch wird nichts geschehen.«

Was will er?

»Bringt mich zu eurem Herrn.«

Er konnte den Hass der Ghule spüren, aber auch ihren Respekt. Ihr Flüstern klang wie das Rascheln von totem Laub, ihr Krächzen wie das Knarren rostiger Türangeln. Schließlich setzte sich der Größte von ihnen schlurfend in Bewegung, woraufhin ihm die Horde widerstrebend folgte. Die Untoten nahmen Lucien in die Mitte.

Er wusste, dass lediglich das Licht sie daran hinderte, über ihn herzufallen. Sollte seine Lampe aus irgendeinem Grund aufhören zu funktionieren, wäre es um ihn geschehen. Er blieb wachsam und ließ sich sein Unbehagen nicht anmerken. Ghule waren wie Raubtiere – nichts stachelte ihre Gier nach lebendigem Fleisch so sehr an wie Furcht.

Der Weg der Horde führte durch enge Tunnel und halb eingestürzte Kammern. Immer wieder mussten sie Schutthaufen emporklettern und über schrundige Löcher im Boden springen. Schließlich öffnete sich der Gang in eine weite Halle, in einen von Menschenhand geschaffenen Felsendom, den Luciens Lampe nicht auszuleuchten vermochte.

Es handelte sich um ein Beinhaus, um das größte, das er je gesehen hatte. Nischen waren in das Mauerwerk eingefügt worden, Dutzende, Hunderte, bis hinauf zur Decke, und jede enthielt menschliche Knochen. Gesplitterte Rippen, vergilbte Wadenbeine, grinsende Schädel. Bei jedem Schritt wirbelte feiner Knochenstaub auf.

Die Ghule führten Lucien zu einem breiten Alkoven, wo sich weitere Untote aufhielten. Sie zischten und entblößten dabei ihre Fangzähne, als das Lampenlicht in ihren Augen brannte.

Ein groteskes Bild bot sich Lucien: Die Ghule hatten Sarkophage zu Tischen umfunktioniert, kauerten auf Steinen und Urnen und nagten an Knochen. Blech- und Messinggeschirr stand auf den provisorischen Tafeln, auf den Tellern lagen Gebeinreste. Viele der Untoten trugen nicht ihre üblichen Lumpen, sondern zerschlissene Reste von Abendkleidern, feinen Gehröcken, kostbaren Roben. Es fehlte nur noch die Kapelle, die für die musikalische Untermalung sorgte.

Es war eine untote Abendgesellschaft, die schauerliche Nachahmung eines Hofstaates. Lucien hatte schon so manche scheußliche Szenerie gesehen und war einiges gewohnt, trotzdem richteten sich beim Anblick der tafelnden Ghule die Härchen an seinen Armen auf.

Er hob die Lampe. Am Ende des Tisches aus Steinsärgen thronte der Madenkönig.

Der Anführer der untoten Schar sah aus wie ein gewöhnlicher Ghul, abgesehen von einem abstoßenden Detaiclass="underline" Ständig krochen Insektenlarven und anderes Getier über seinen Körper und verschwanden in Öffnungen seines verwesenden Leibes. Er trug einen schwarzen Anzug, der einst stilvoll und teuer gewesen sein mochte, nun aber voller Risse war, durch die man bleiche Knochen und graue Haut sah. Die Manschettenknöpfe glänzten stumpf, in seinem Zylinder klaffte ein Loch wie von einer Pistolenkugel.

Vorsichtig näherte sich Lucien der Tafel. Es war das erste Mal, dass er den Madenkönig mit eigenen Augen sah, aber er kannte die Geschichten, die man sich über ihn erzählte. Das Oberhaupt der Ghule galt als verschlagen, gemein und viel gefährlicher als seine Untertanen.

Der Untote nahm jedoch keinerlei Notiz von Lucien. Sein ganzes Interesse galt einem kleinen Gegenstand in seiner Klauenhand – einer Taschenuhr. Wie gebannt betrachtete er das Bild im Deckel des goldenen Chronometers.

»Ich suche Aziel«, sprach Lucien ihn an. »Du weißt doch sicher, wo ich ihn finde.«

Der Madenkönig hob den Kopf und musterte ihn mit fahl glühenden Augen. Eine schwer zu deutende Regung erschien darin. Neugier? Belustigung? Schließlich widmete sich der Untote wieder seiner Uhr.

»Er wurde aus den Traumlanden vertrieben. In seinem Varieté ist er nicht, auch nicht in einem anderen Unterschlupf. Also, wo versteckt er sich?«

Als der Madenkönig wieder nicht antwortete, trat Lucien mit hoch erhobener Lampe näher. Die Ghule fauchten, einige flohen in die Schatten. Ihr König sprang von seinem Lehnstuhl auf und bleckte die Fangzähne, bereit, sich auf ihn zu stürzen.

Lucien verbarg seine Furcht. »Ich gehe erst weg, wenn ich es weiß.«

Flüstern und Krächzen erfüllte das Beinhaus. Bei dem Angriff auf Lady Sarkas Palast hatten die Spiegelmänner viele Ghule vernichtet, doch es waren immer noch mehr als genug da, um ihn zu umzingeln und binnen weniger Sekunden in Stücke zu reißen. Er durfte es nicht übertreiben. Wenn man Ghule zu sehr reizte, hielt sie nicht einmal gleißendes Licht von einem Angriff ab.

»Ich bin hier«, erklang in diesem Moment eine Stimme aus der Dunkelheit.

Aziel! Vor Erleichterung wäre Lucien beinahe zu ihm gestürzt, hielt sich jedoch zurück. Aziel und er waren zuletzt Feinde gewesen. Er konnte nicht vorhersagen, wie ihr Wiedersehen verlief.

Wachsam ging er zu dem Winkel, aus dem die Stimme kam. In einer Nische lag eine Gestalt, auf Lumpen gebettet. Sie versuchte, sich aufzusetzen, war jedoch zu schwach und sank zurück auf das Lager.