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Aziel sah schrecklich aus, so abgemagert und entstellt, dass Lucien den letzten Herrscher der Träume fast nicht erkannt hätte. Sein Gesicht glich einem Schädel, sein ehemals massiger Leib einem Skelett, über das sich ledrige Haut spannte. Sein Haar war ausgefallen; vereinzelte weiße Strähnen klebten ihm an Schläfen und Wangen.

»Bei der ewigen Nacht, Aziel...«, murmelte Lucien erschüttert.

»Dreh die Lampe herunter. Das Licht schmerzt in meinen Augen.« Aziels Stimme klang schwach, brüchig, alt. »Fürchte dich nicht vor den Ghulen. Sie werden dir nichts tun.«

Lucien konnte spüren, dass die Untoten und ihr Anführer ihn lauernd beobachteten. Widerstrebend dimmte er das Licht.

Er setzte sich auf eine Urne. »Wie hast du sie dazu gekriegt, dir zu gehorchen?«

»Der Madenkönig ist mir dankbar. Ich habe ihm etwas gegeben, das ihm sehr viel bedeutet.«

»Etwa die goldene Uhr? Was soll ein Ghul mit einer Uhr?«

»Ich glaube, sie erinnert ihn an früher. Als er noch ein Mensch gewesen ist.«

Niemand wusste, wieso die Ghule vor einigen Jahren aufgetaucht waren und was sie zu dem gemacht hatte, das sie heute waren – nicht einmal sie selbst. Es schien, als hätten sie es im Lauf der Zeit vergessen.

»Ist er nicht wütend auf dich?«, fragte Lucien.

»Wieso sollte er?«

»Viele seiner Untertanen wurden vernichtet. Bei einem Kampf, für den du verantwortlich bist.«

»Ich glaube nicht, dass ihn das kümmert. Alles, was ihn interessiert, ist die Taschenuhr.« Aziel musste husten, und seine Hand grub sich in die Lumpen. Es dauerte einen Moment, bis er weitersprechen konnte. »Weißt du, wo Seth sie gefunden hat? Im Keller des Magistratspalastes. Seltsam, nicht wahr?«

»Seth ist tot«, sagte Lucien.

Aziel nahm diese Nachricht schweigend auf. »Er war ein Verräter«, sagte er nur.

Lange Zeit sprach keiner der beiden. Lucien musterte seinen einstigen Herrn, dessen Brust sich unregelmäßig hob und senkte, der die Augen schloss, weil ihn selbst diese kurze Unterredung an die Grenze seiner Kräfte brachte. Aziel war bereits verwundet und schwach gewesen, als er nach dem fehlgeschlagenen Angriff auf Lady Sarkas Anwesen die Flucht ergriffen hatte. Die Niederlage gegen Jackon und seine Vertreibung aus den Traumlanden hatten ihn schließlich gebrochen. Er war dem Tode nah, begriff Lucien. Sein Leben ging nach vielen tausend Jahren zu Ende.

Aziel war sein König gewesen, sein Freund, später sein Richter und der Verkünder seines Bannspruchs, zuletzt sein Gegner. Dennoch hatte Lucien nie Hass für ihn empfunden. Dafür gab es zu viel, das sie verband.

»Ich habe gehofft, du würdest kommen«, murmelte Aziel. »Es ist schön, dich noch einmal zu sehen.«

»Obwohl wir Feinde sind?«

»Ich bin müde, Lucien. Müde und einsam. Ich habe keine Kraft mehr, dich zu hassen. Was geschehen ist, ist geschehen.«

»Wenn ich dich nicht verwundet hätte, wärst du vielleicht stark genug gewesen, Jackon zu schlagen.« Lucien konnte nicht verhehlen, dass er sich deswegen Vorwürfe machte.

»Du weißt es also.«

»Ja.«

»Das eine Mal vielleicht«, sagte Aziel. »Aber irgendwann hätte er mich besiegt. Der Junge ist mächtig.«

»Lady Sarka herrscht jetzt über die Traumlanden.«

Der einstige Albenherrscher nickte schwach. »Sie hat ihn benutzt. Genau wie wir dachten.«

»Es zeigt bereits Auswirkungen in der Wachwelt. Viele Menschen träumen nicht mehr richtig. Lady Sarka scheint machtlos dagegen zu sein.«

»Natürlich«, erwiderte Aziel mit einem Anflug seiner alten Arroganz. »Sie ist eine Sterbliche.«

»Ich fürchte, dass sich eine Katastrophe anbahnt«, meinte Lucien düster.

»Möglich«, war alles, was der ältere Alb dazu sagte. Er schloss wieder die Augen.

Angespannt biss sich Lucien auf die Lippe. Er musste mit Aziel über seine Entdeckung sprechen – er konnte keine Rücksicht auf dessen Zustand nehmen. Denn wenn Aziel starb, gab es vielleicht niemanden mehr, der etwas darüber wusste.

»Vor einer Weile hast du Seth ins Pandæmonium geschickt«, begann er. »Warum?«

»Damit er etwas für mich überprüft.«

»Ob die Lichtmauern brechen?«

Schwach drehte Aziel den Kopf, öffnete seine Augen einen Spalt. Blickte ihn fragend an.

»Ich war dort«, erklärte Lucien. »Im Pandæmonium. Ich habe die Risse in den Grenzwällen gesehen.«

»Dann weißt du ja, wie schlimm es um die Welt der Menschen steht«, murmelte der einstige Albenherrscher.

»Was geschieht da? Was ist für die Risse verantwortlich?«

»Später. Brauche Ruhe.«

»Nicht einschlafen«, verlangte Lucien und ergriff Aziels Hand. »Bitte. Ich muss es wissen.«

»Du kannst nichts mehr tun... Zu spät.«

»Es gibt da einen Zusammenhang, nicht wahr? Zwischen den Verwerfungen in den Träumen und dem Pandæmonium. Andernfalls hättest du Seth nicht ausgeschickt.«

»Träume sind wichtig«, flüsterte Aziel, ohne die Augen zu öffnen. »Viel wichtiger, als die Menschen ahnen.«

»Hat es etwas mit der Erschaffung der Lichtmauern zu tun? Mit der Magie des Verlorenen Volkes?« Es waren nur Vermutungen, die Lucien da aussprach, vage Ahnungen, genährt durch die Dinge, die Vivana erfahren hatte, als sie der Stele mit den gespeicherten Erinnerungen zu nahe gekommen war.

Aziel war zu schwach für eine Antwort. Als Lucien schon glaubte, er sei eingeschlafen, öffnete er plötzlich die Augen. Offenbar hatte er in sich noch einen Rest von Kraft gefunden. »Du weißt, woraus die Lichtmauern bestehen«, sagte er. »Aus Güte. Demut. Selbstlosigkeit. Aus den guten Energien der ganzen Menschheit. Das Verlorene Volk hat sie sich zu Nutze gemacht, um die Dämonen für immer einzukerkern.«

»Aber sie werden schwächer, nicht wahr? Deshalb die Risse.«

»Menschen, die nicht träumen können, sind gefährlich«, bestätigte Aziel. »Das Schlechte in ihnen gewinnt allmählich die Oberhand. Zorn. Neid. Habgier. Bis sie schließlich den Verstand verlieren. Das schwächt die Lichtmauern.«

Lucien schloss für einen Moment die Augen. Es war schlimmer, viel schlimmer, als er je für möglich gehalten hätte. »Kann man es aufhalten?«

»Nein. Niemand vermag das.«

»Nicht einmal Lady Sarka?«

»Allein kann sie nichts ausrichten. Dass sie vergeblich versucht, ihrer Kräfte Herr zu werden, beschleunigt den Verfall der Träume noch.«

»Wir müssen in die Anderwelt reisen. Müssen den Harlekin überzeugen, zurückzukehren. Er wird nicht zulassen, dass Lady Sarka die Träume zerstört.«

»Es kümmert ihn nicht, was sie tut. Und es kümmert ihn nicht, was aus den Menschen wird.«

»Dann sag mir, was ich stattdessen unternehmen soll«, erwiderte Lucien.

»Geh zur Anderwelt, zu unserem Volk. Vergiss die Menschen und finde deinen Frieden.«

»Ich kann sie nicht vergessen.«

Ein Lächeln stahl sich auf Aziels Gesicht. »Ja. Das dachte ich mir.«

»Ich finde einen Weg«, sagte Lucien ohne rechte Überzeugung. »Ich lasse nicht zu, dass es so weit kommt.«

»Lucien, der Meisterdieb. Auf seine alten Tage wird er noch zum Wohltäter und Helden.«

Der einstige Albenherrscher musste wieder husten, schlimmer diesmal. Lucien half ihm, indem er seinen Kopf stützte und ihm etwas von dem Wasser gab, das neben der Nische in einem Zinnkrug bereitstand.

»Ich habe eine Bitte, alter Freund«, krächzte Aziel, als die Hustenkrämpfe nachließen. »Ich sterbe bald, ich spüre es. Bleib bei mir, bis das Ende kommt.«

»Unsinn«, sagte Lucien. »Niemand stirbt. Ein paar Tage Ruhe und du kommst wieder zu Kräften.«

»Sieh mich an. Glaubst du das wirklich?«