Er schwieg. Es hatte keinen Sinn, es zu leugnen. Aziels Zustand war zu schlecht, als dass er sich je wieder erholen könnte. Nicht einmal eine rasche Flucht in die Anderwelt hätte ihn jetzt noch retten können.
»Nun«, meinte der ältere Alb, »willst du das für mich tun?«
»Ja«, antwortete Lucien.
Und so saß er bei Aziel, gab ihm zu trinken, tupfte ihm den Schweiß von der Stirn und lauschte seinem Atem, während der einstige Albenkönig schwächer und schwächer wurde. Es schien, als hätte dieser nur auf Luciens Besuch gewartet, um Abschied von der Welt zu nehmen. Stunde um Stunde verstrich, und aus Aziel wich das Leben, jede Minute ein wenig mehr. Anfangs lächelte er noch über die Geschichten aus alter Zeit, die Lucien erzählte, doch bald schon war er sogar dafür zu schwach. Schließlich lag er reglos da, atmete flach, und seine Lider flatterten.
»Adieu, mein Freund«, flüsterte Lucien.
Und Aziel starb. Über Bradost ging die Sonne auf, vermochte den Nebel in den Gassen jedoch nicht zu durchdringen. Die Ghule nagten an den Knochen, warfen gierige Blicke zur Nische, freuten sich auf frisches Fleisch. Lucien band sich die Lampe an den Gürtel, hob den Leichnam seines Herrschers von seinem Lager aus Lumpen und trug ihn durch den Saal, fort vom Hof des Madenkönigs.
Er war nun der letzte der Alben, und er schritt einer ungewissen Zukunft entgegen.
32
Der schwimmende Palast
Nebel umgab die Plattform von Vorod Khorojs Haus, so dicht und zäh, dass man kaum die Klippen und die Felsen der Steilküste erkennen konnte. Sämtliche Geräusche verloren sich darin, der Lärm des Hafens, sogar das Rauschen der Brandung. Irgendwo im Osten erahnte Liam die aufgehende Sonne, ein formloses Glühen inmitten der Schwaden. Es war, als treibe Khorojs Palast im Nichts, vollständig abgeschnitten von der Welt.
Liam stand am Rand der Plattform, die Hände auf dem Messinggeländer, und atmete tief durch. Keiner von ihnen hatte in der Nacht geschlafen; bis in die frühen Morgenstunden hatten sie versucht, den alten Text zu verstehen, den Khoroj für sie übersetzte. Die salzige Luft der Bucht tat ihm gut, half ihm, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Seine Augen brannten, seine Schläfen pochten, in seinem Magen rumorte der viele Kaffee, den er getrunken hatte – doch er war nicht müde. Sein ganzer Körper schien zu vibrieren vor Aufregung, vor Erschütterung. Obwohl er immer noch nicht richtig glauben konnte, wovon das Buch berichtete. Und was das für Bradost bedeutete.
Wenn du doch nur hier sein könntest, Vater, dachte er. Du hast es von Anfang an geahnt.
Er ging zurück zu den anderen.
An der Eingangstür kam ihm Vivana entgegen. »Gut, dass du kommst. Ich wollte dich gerade holen«, sagte sie. »Vorod und Tante Livia haben den Rest übersetzt.«
Sie küsste ihn auf die Wange. Hand in Hand gingen sie hinein.
Vivanas Vater, Livia und Khoroj saßen an einem geschnitzten Tisch. Das Gelbe Buch lag inmitten eines Durcheinanders aus Schriftrollen und Nachschlagewerken, Notizpapieren, Schreibzeug und Tassen. Farbige Lampen vertrieben das Dämmerlicht. Es roch nach Kaffee.
Khoroj nahm einen tiefen Schluck aus seinem Wasserglas. Der Südländer wirkte genauso übernächtigt und erschöpft wie Livia und Quindal.
»Habt ihr noch etwas herausgefunden?«, erkundigte sich Liam, als er und Vivana sich zu ihnen setzten.
»Nichts Wesentliches«, antwortete Livia. »Auf den letzten Seiten wird detailliert das Ritual beschrieben, das ist alles.«
»Machen wir eine Pause«, sagte Quindal. »Ich muss frische Luft schnappen, sonst kann ich nicht mehr denken.«
Er und Livia gingen nach draußen, während Khoroj im Nebenzimmer verschwand, um frischen Tee aufzusetzen. Unterdessen blätterte Liam in Khorojs Notizen. Der Südländer besaß eine gestochen scharfe Handschrift, die man mühelos lesen konnte, obwohl er beim Übersetzen manchmal nur Stichpunkte gemacht hatte. Trotz seines beträchtlichen Umfangs enthielt das Gelbe Buch recht wenig Text – alles in allem umfasste die Übersetzung etwa dreißig eng beschriebene Seiten. Bei dem Rest handelte es sich um okkulte Diagramme, um Abbildungen magischer Symbole oder ausführliche Listen mit Hilfsmitteln und Substanzen für Zaubergesänge und Rituale.
Am schwierigsten war es gewesen, die verschiedenen Textfragmente zu ordnen und in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Der Verfasser, ein Edelmann namens Mahoor Shembar, hatte seine Gedanken und Erfahrungsberichte vollkommen ungeordnet niedergeschrieben und das Ganze zu einem Buch gebunden – ohne Inhaltsverzeichnis oder Glossar. Folglich hatte es mehrere Stunden gedauert, bis sie endlich verstanden hatten, wovon das Buch überhaupt handelte.
Mahoor Shembar hatte vor mehreren Jahrhunderten in Yaro D’ar gelebt und sich in einer der wenigen Städte auf dem Festland als Alchymist, Nigromant und Sterndeuter betätigt. Seine Berichte ließen erkennen, dass damals die Magie viel stärker als heute gewesen war – überall traf man auf Schattenwesen, und das Wirken von Magiern und Sehern beherrschte das Leben.
Mahoor Shembars Heimatstadt hieß Ilnuur – laut Khoroj existierte sie schon lange nicht mehr. Sie wurde, genau wie die alte Republik Bradost, von einem Phönix beschützt, der von einer hohen Felsnadel aus über die Geschicke der Stadt wachte. Eines Tages fasste Shembar den Plan, den Phönix einzufangen und sich seine Kräfte einzuverleiben. Las man in seinen Aufzeichnungen zwischen den Zeilen, erhielt man das Bild eines skrupellosen Mannes, der vor nichts zurückschreckte, um seinen Einfluss und Wohlstand zu vergrößern und seine Feinde zu vernichten. Shembar wollte den Phönix versklaven und mit ihm verschmelzen, wie er es bereits zur Mehrung seiner Macht mit geringeren Schattenwesen getan hatte. Der Lohn dafür seien, so glaubte er, übermenschliche Kräfte und Unverwundbarkeit.
Mehrere Jahre brachte er damit zu, einen Zauber zu entwickeln, mit dem er den Phönix an sich binden und ihn sich untertan machen konnte. All seinen Reichtum und seine Energie investierte der Alchymist in dieses Vorhaben. So entstand mit der Zeit ein Ritual von unvorstellbarer Macht.
Jeder Schritt, jedes Element der magischen Bindezeremonie wurden in dem Buch akribisch genau erläutert. Mit verschiedenen Zaubergesängen wollte sich Shembar in die notwendige geistige Verfassung versetzten. Alte Symbole, zu Hunderten auf den Boden gezeichnet, sollten die okkulten Energien in die richtigen Bahnen lenken. Dutzende von Kräutern und Substanzen sollten verbrannt werden, damit ihre Essenzen und Wirkstoffe die Barrieren der Schattenwelt aufbrachen. Magische Wortfolgen, während des Rituals aufgesagt, sorgten dafür, dass keine feindlichen Mächte und hungrige Schatten auf Shembar aufmerksam wurden und die Zeremonie störten. Vivanas Tante sagte, sie habe noch nie von einem Zauber gehört, der so ausgefeilt und komplex war und derartige Kräfte zu entfesseln vermochte. Sie zweifelte nicht daran, dass der machtgierige Sterndeuter mit seinem Plan hätte Erfolg haben können.
Dazu kam es jedoch nicht. In der Nacht, in der Shembar das Ritual vorbereitete, wurde der Phönix auf die Bedrohung aufmerksam. Zornig stürzte er von seiner Felsnadel hinab und versuchte, den Alchymisten zu vernichten. Shembar wehrte ihn mit mächtiger Magie ab und verwundete ihn. Der Phönix floh und wurde nie wieder in Ilnuur gesehen.
Was daraufhin aus Shembar wurde, ging aus seinen Aufzeichnungen nicht klar hervor. Möglicherweise musste er Ilnuur verlassen, verjagt von rachsüchtigen Bürgern, die ihn für das Verschwinden des Phönix verantwortlich machten. Das Buch schloss mit der Bemerkung, dass er plane, sein Wissen um das Ritual zu verkaufen, um seinen verlorenen Reichtum zurückzugewinnen. Damit endete Shembars Geschichte.