War der Phönix von Ilnuur derselbe, der später über Bradost wachte? War er nach seinem Kampf mit dem bösartigen Nigromanten nach Norden geflohen, über das Meer, um sich an der Mündung des Rodis niederzulassen, wo ihm keine Gefahr drohte? Liam und seine Gefährten konnten darüber nur Vermutungen anstellen, denn natürlich enthielt das Buch keine entsprechenden Hinweise. Ein Verdacht jedoch wurde immer dringlicher, je mehr sie über Shembar und seine Pläne erfuhren, wenngleich er sich nicht beweisen ließ. Es war Quindal, der ihn als Erster aussprach: Der Phönix von Bradost hatte sich nicht in die Anderwelt zurückgezogen, wie jeder glaubte. Jemand hatte das Ritual benutzt, um ihn einzufangen, ihn zu versklaven: Lady Sarka.
Anfangs hatte Liam sich geweigert, dergleichen auch nur in Betracht zu ziehen; zu absurd, zu schrecklich war die Vorstellung, Lady Sarka könnte für das Verschwinden des Phönix verantwortlich sein. Doch je länger er darüber nachdachte, desto plausibler erschien es ihm. Warum sonst hätte sich das Buch in ihrem Besitz befinden sollen? Abgesehen von Shembars Ritual besaß es keinerlei praktischen Wert. Und warum sollte sie alles daransetzen, die Existenz des Folianten zu verheimlichen, wenn sie nicht befürchten musste, dass man mit seiner Hilfe ein unfassbares Geheimnis enthüllen konnte? Ein Geheimnis, das das Potenzial besaß, ganz Bradost in einen rasenden Mob zu verwandeln.
Nein, alles deutete darauf hin, dass Quindal Recht hatte – dass Lady Sarka mit dem Phönix verschmolzen war, um sich übermenschliche Kräfte zu verschaffen und Bradost seines Wächters zu berauben.
Sein Vater hatte das geahnt, hatte nach einem Weg gesucht, es zu beweisen – und dafür mit dem Leben bezahlt.
Liams Hände zitterten, als er die Notizen zurücklegte. Vivana musterte ihn besorgt.
»Er hätte mich einweihen müssen«, sagte er leise. »Ich hätte ihm helfen können. Er könnte jetzt hier bei uns sein.«
Sie musste nicht fragen, von wem er sprach. »Er wollte dich eben beschützen.«
»Mich beschützen? Nein. Er hat mir nicht vertraut.« Es gelang Liam nicht, seine Bitterkeit zu verbergen.
Die anderen kamen zurück. Khoroj goss ihnen frischen Tee ein, als sie sich setzten.
»Noch mal von vorne«, sagte Quindal mit gerunzelter Stirn. »Lady Sarka ist für das Verschwinden des Phönix verantwortlich. Sie hat ihn eingefangen und mit magischer Kraft an sich gebunden. Könnte das eine Erklärung für die Gerüchte sein?«
»Welche Gerüchte?«, fragte Liam.
»Dass man Lady Sarka mit Waffengewalt nichts anhaben kann. Dass sie unverwundbar ist.«
»Könnte es«, sagte Livia. »Ein Phönix hat die Macht, sich selbst zu verbrennen und neu zu erschaffen und so den Tod zu überlisten. Wenn es Lady Sarka gelungen ist, mit ihm zu verschmelzen, sind diese Kräfte auf sie übergegangen, zumindest teilweise.«
Liam stellte sich vor, wie Lady Sarka verbrannte und aus ihrer eigenen Asche auferstand. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Wenn das wirklich stimmte, war ihre Macht noch viel größer, als er je für möglich gehalten hatte.
»Wie ist so etwas heute überhaupt noch möglich?«, fragte Vivana. »Die Magie ist doch viel schwächer als zu Mahoor Shembars Lebzeiten. So ein Ritual dürfte doch gar nicht mehr funktionieren.«
»Im Prinzip hast du Recht«, erwiderte ihre Tante. »Aber es gibt auch heute noch Wege, starke magische Energien zu gewinnen. Etwa indem man Schattenwesen tötet und sich ihre Essenz einverleibt. Ich vermute, dass Lady Sarka so etwas getan hat. Skrupellos genug ist sie. Ich frage mich nur, wer ihr geholfen hat. Sie kann das Ritual unmöglich allein durchgeführt haben. Shembar hat dafür drei Dutzend Sklaven eingeplant. Leute, die ihm halfen, tausende Kraftsymbole aufzuzeichnen. Die die Kräuter verbrannten. Die den Phönix anlockten.«
»Es dürfte ihr nicht schwergefallen sein, genügend Helfer zu finden«, sagte Khoroj. »Sie war damals schon reich und mächtig.«
»Aber so viele Mitwisser stellen ein Risiko dar. Wie hat sie dafür gesorgt, dass niemand redet?«
»Sie hat sie ermordet, ganz einfach«, meinte Quindal.
»Vielleicht«, sagte Livia, doch sie wirkte nicht überzeugt.
Sie verfielen in nachdenkliches Schweigen. Nach einer Weile stellte Liam die Frage, die seit Stunden unausgesprochen im Raum stand: »Was machen wir jetzt?«
»Wir könnten jedem erzählen, was Lady Sarka getan hat«, schlug Vivana vor. »Die Leute würden sie aus der Stadt jagen.«
»So einfach ist das nicht«, erwiderte ihr Vater. »Wir müssten uns an eine Zeitung wenden, um genügend Leute zu erreichen. Es gibt aber kein unabhängiges Blatt mehr. Man würde uns auf der Stelle verhaften.«
»Außerdem dürfte es schwierig werden, die Geschichte zu beweisen«, pflichtete Livia ihm bei.
»Wir haben das Buch«, sagte Liam.
»Ein Buch, das niemand lesen kann und das in den Augen der meisten Menschen nichts als mystischen Hokuspokus enthält. Nein, ich fürchte, es taugt nicht als Beweis.«
»Könnte man den Phönix befreien?«, fragte Khoroj.
»Du meinst, ob man den Zauber umkehren und die Verschmelzung rückgängig machen könnte?«, entgegnete die Wahrsagerin. »Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Der Gegenzauber müsste genauso stark wie Shembars Ritual sein. Leider kenne ich niemanden, der über solche Macht verfügt.«
»Vielleicht hat Lucien eine Idee«, sagte Vivana. »Er weiß mehr als wir über Magie und solche Sachen.«
»Ja«, stimmte Livia zu. »Reden wir mit ihm. Vielleicht ist er schon wieder zurück.«
Müde packten sie die Notizen zusammen und steckten sie zusammen mit dem Buch in Vivanas Tasche.
»Ich hoffe, ich war euch eine Hilfe«, sagte Khoroj, als er sie zur Tür begleitete.
»Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll«, erwiderte Quindal. Nach einem Moment des Zögerns fügte er hinzu: »Bitte denk daran – zu niemandem ein Wort über all das.«
»Gewiss. Zögert nicht, herzukommen, wenn ihr wieder Hilfe braucht. Ihr seid jederzeit willkommen.« Der Südländer verneigte sich zum Abschied.
Kurz darauf steuerte Quindal das Ruderboot durch den Nebel. Die Schwaden hatten sich ein wenig gelichtet, sodass sie den Phönixturm sehen konnten, als sie am Luftschiffhafen vorbeifuhren. Wie eine gewaltige Nadel aus Mörtel und Stein ragte er aus dem Dunst und erschien Liam verlassener und trostloser als je zuvor.
33
Godfrey
Gegen Nachmittag löste sich der Nebel allmählich auf, zog sich zum Fluss zurück und hinterließ eine feuchte Kälte in den Gassen des Labyrinths. Rußiges Wasser tropfte von Fassaden und Dachvorsprüngen und sammelte sich im Rinnstein. Es war ein dunkler Herbsttag, bedrückend und trist.
Als Vivana und ihre Gefährten Bajos Haus erreichten, wurden sie schon von Lucien erwartet. Vivana war heilfroh, den Alb wohlauf zu sehen, allerdings währte ihre Erleichterung nicht lange. Die Neuigkeiten, die er brachte, waren verstörend. Um Bajo und seine Familie nicht zu beunruhigen zogen sie sich mit Madalin und dessen Brüdern in ein Nebenzimmer des Saales zurück, wo Lucien berichtete, was er herausgefunden hatte. Aziels Tod schilderte er in knappen, sachlichen Worten, die seinen Schmerz kaum verbargen. Er hatte den letzten König der Träume an einen geheimen Ort gebracht und dort begraben. Wo, behielt er für sich.
Nachdem Lucien fertig war, schwiegen die Gefährten lange. Es ging nicht mehr nur um Träume und die Herrschaft von Lady Sarka. Die Bedrohung war viel größer, viel schrecklicher, als sie angenommen hatten. Dämonen, die ins Diesseits eindrangen... Vivana schüttelte den Kopf. Sie wollte, sie konnte sich so etwas nicht vorstellen.
Schließlich erzählte sie von der Nacht in Vorod Khorojs Haus und den Erkenntnissen, die sie dank des Buches gewonnen hatten. Lucien hörte ihr wortlos zu und sagte auch dann nichts, als die Sprache auf Lady Sarka und ihr unfassbares Verbrechen kam.