Lucien forderte Vivanas Vater auf, den Tragekorb zu öffnen. »Wir müssen vermutlich tagelang zu Fuß gehen, deswegen nehmen wir nur mit, was wir unbedingt brauchen. Alles andere lassen wir hier. Was ist das?«
»Mein altes Zelt«, antwortete Vivana.
Der Alb warf die zusammengerollte Plane und die Zeltstangen weg und begann, einen Großteil des Korbinhalts auszusortieren. Vivana und ihr Vater sahen hilflos zu, wie Kleider und Ausrüstungsstücke zu Boden fielen, bis der Tragekorb bald nur noch halb voll war.
Schließlich leerte Lucien auch ihren Wasserschlauch aus.
»Was machst du da?«, protestierte Vivana. »Wir brauchen das Wasser!«
»Ja, aber keine zwei Gallonen. Das ist viel zu schwer. Eine halbe muss genügen. Unterwegs können wir den Schlauch ja wieder auffüllen.«
»Im Pandæmonium gibt es Wasser?«
»In allen alten Berichten, die ich kenne, ist von Quellen und Wasserstellen die Rede. Auf meiner Karte sind sogar ein paar eingezeichnet. Es sollte kein Problem sein, sie zu finden.«
In diesem Moment gab Ruac ein Zischen von sich, woraufhin sich Lucien zum Tor umwandte. »Es öffnet sich!«
Die Wülste bewegten sich, als würden sich riesige Würmer in der Wand winden und dabei das Mauerwerk aufwerfen. Die Membran wölbte sich nach innen und bildete eine fleischige Mulde. Vivana wurde beinahe übel, so abstoßend war der Anblick.
»Sowie man das Tor berührt, saugt es einen hinein«, sagte Lucien, während er die Riemen seines Rucksacks festzog. »Es dauert eine Weile, bis man auf der anderen Seite ist, also haltet die Luft an. Es ist unvermeidlich, dass ihr mit der bösen Energie in Berührung kommt. Lasst euch auf keinen Fall davon beeinflussen.«
»Wie meinst du das?«, fragte Vivana.
»Das wirst du schon sehen. Viel Glück.«
»Nein, warte!«, rief sie, doch bevor sie auch nur eine ihrer zahllosen Fragen loswerden konnte, war der Alb bereits die Schutthalde hinaufgeklettert und stieß eine Hand in das Tor. Die Membran zog ihn hinein, und Sekunden später war er verschwunden, als wäre er in der teigigen Masse versunken.
»Ich gehe als Nächste«, sagte Vivana, nachdem sie ihr Entsetzen überwunden hatte.
»Kommt gar nicht infrage«, erwiderte ihr Vater. »Wer weiß, was dieser Kerl vorhat.« Er schob sie zur Seite und stieg unbeholfen das Geröll hinauf, den Tragekorb auf dem Rücken. »Ich kann nicht glauben, dass ich das tue«, knurrte er und berührte die Membran.
Das Gebilde begann ihn zu verschlucken wie zuvor Lucien. Doch anders als der Alb kämpfte er plötzlich dagegen an, versuchte, sich gegen den Sog der Membran zu wehren, vergeblich. Ein erstickter Schrei drang aus seinem Mund, und Vivana sah das Grauen in seinem Gesicht, bevor auch er verschwand.
Eiseskälte breitete sich in ihren Gliedern aus. Mit fahrigen Bewegungen griff sie nach Luciens Laterne, drückte Ruac an sich und erklomm die Schutthalde.
Die Membran schmatzte leise. In Vivanas Kopf drehte sich alles.
Ich komme, Liam, dachte sie. Halte durch. Bitte halte durch.
4
Trauer
Roter Nebel umgab Jackon und hüllte ihn von Kopf bis Fuß ein. Blind und taub taumelte er darin umher, erfüllt von einem unbestimmten Gefühl der Furcht, von einer vagen Ahnung, dass er fliehen sollte, obwohl er sich nicht erinnern konnte, wovor. Manchmal murmelten Stimmen und tauchten schemenhafte Gesichter auf, doch sie verschwanden wieder, bevor er sie erkannte oder verstand, was sie sagten.
Der Nebel lichtete sich auch dann nicht, als er aufwachte, zumindest nicht sofort. Jackon lag reglos da, atmete flach und wartete. Irgendwo glühte ein Licht.
Er blinzelte die letzten Dunstschleier fort. Eine seltsame Taubheit erfüllte seinen Körper, am stärksten in Armen und Beinen, die er kaum bewegen konnte. Langsam drehte er den Kopf.
Holzgetäfelte Wände.
Ein karmesinroter Teppich auf dem Boden.
Eine Stellwand.
Vitrinen, ein abgenutzter Ohrensessel, ein geschnitztes Tischchen, auf dem verschiedene Phiolen standen.
Nirgendwo Fenster oder eine Tür.
Das geheime Zimmer, dachte er benommen. Ja. Er hatte viele Nächte hier verbracht und kannte es in- und auswendig.
Er lag auf der roten Couch, zur Hälfte von einem durchgeschwitzten Laken bedeckt, das sich um seine Beine schlang. Er hatte Durst, war jedoch zu schwach, um nach der Wasserkaraffe auf dem Tischchen zu greifen.
Jackon erinnerte sich, dass er hergetragen worden war... von Corvas und Amander. Er hatte Schmerzen gehabt, schreckliche Schmerzen. Ein fremder Mann hatte ihm eine Spritze gegeben; wenig später war er eingeschlafen.
Was war davor geschehen?
Eine missgestaltete Fratze tauchte aus den Tiefen seines benebelten Gedächtnisses auf – und schlagartig fiel ihm alles wieder ein: die Ghule. Ihre heillose Flucht. Der Kampf im Kuppelsaal. Aziel, der versucht hatte, ihn zu töten.
Jackon keuchte vor Entsetzen, als ihm klar wurde, dass er vielleicht immer noch in Gefahr schwebte. Er musste fort, so schnell wie möglich, und sich irgendwo verstecken.
Schwerfällig streifte er das Laken ab, um sich aufzurichten. Doch der Schmerz, der daraufhin in seiner Brust aufwallte, war so heftig, dass er beinahe das Bewusstsein verlor. Schwer atmend blieb er liegen und vermied jede weitere Bewegung, bis das Stechen und Brennen nachgelassen hatte.
Vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter, führte er die Hand zu seinem Schlüsselbein. Er war nackt bis auf die Unterhose; um seine Brust hatte man Bandagen geschlungen. Das Fleisch darunter begann zu pochen, als er die Kompresse berührte.
Seth hatte ihn angegriffen, hatte ihm eine glühende Dolchklinge in den Körper gestoßen. Die Erinnerung daran war verschwommen, überlagert von Grauen und Schmerz, doch eines wusste er noch ganz genau: Der Incubus hätte ihn getötet, wenn Liam den Halbdämon nicht abgelenkt hätte.
Jackon schloss die Augen und versuchte, seine spröden Lippen zu befeuchten. Seine Zunge war taub und angeschwollen. Er brauchte dringend etwas zu trinken.
Irgendwann hörte er leise Schritte. Er erwartete schon, Aziel oder einen Ghul zu sehen, als er den Kopf zur Seite drehte, aber er erblickte nur einen Mann in schlichter Livree. Jackon kannte ihn: Es war einer der stummen Zwillinge, die vor ein paar Wochen auf ihn aufgepasst hatten. Wellcott... oder Kendrick. Jackon konnte die beiden Männer nicht auseinanderhalten.
Der Diener lächelte, stellte eine Schale mit dampfender Suppe auf den Tisch, ersetzte das Laken durch ein frisches und schob ihm behutsam ein zweites Kissen unter den Kopf. Dann füllte er einen Becher mit Wasser und half Jackon beim Trinken. Endlich ließ der quälende Durst nach, und der scheußliche Geschmack in seinem Mund verschwand.
Anschließend fütterte der Mann ihn. Die Gemüsesuppe war heiß, weswegen er auf den Löffel blies, bevor er ihn Jackon zum Mund führte. Jackon schaffte nicht einmal die halbe Schale. Sogar zum Essen war er zu schwach. Er sank auf das Kissen zurück, schöpfte Atem und brachte leise hervor: »Wo ist die Herrin?«
Der Diener machte eine unbestimmte Geste, hob das Tablett mit dem Suppennapf an und verschwand hinter der Stellwand. Jackon legte die Hände auf das Laken, darum bemüht, das Pochen in seiner Brust zu ignorieren. Wenigstens schien er in Sicherheit zu sein. Man würde ihm kaum Suppe bringen, wenn noch Ghule in der Nähe wären.
Er versuchte, sich an weitere Einzelheiten des Kampfes zu erinnern. Was war mit Liam geschehen, nachdem Corvas und Amander ihn die Treppe hinaufgetragen hatten? Was mit Lucien und dem Mädchen – Vivana? Und wie viel Zeit war seitdem vergangen? Ein paar Stunden? Mehrere Tage?