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»Tante Livia sagt, der Zauber sei vielleicht umkehrbar«, schloss Vivana. »Allerdings wissen wir nicht, wie. Wir haben gehofft, dass du eine Idee hast.«

»Ich muss darüber nachdenken«, erwiderte Lucien nach einer Weile. »Aber erwartet nicht zu viel. Ich habe noch nie von einem so mächtigen Bindezauber gehört.«

Nicht nur Vivana hatte sich eine zuversichtlichere Antwort erhofft. Enttäuschung machte sich breit.

»Angenommen wir schaffen es, den Phönix zu befreien – was nutzt uns das?«, fragte Vivanas Vater. »Bradost hätte seinen Wächter wieder. Aber das ändert nichts an der Katastrophe, die uns bevorsteht.«

»Vielleicht doch«, widersprach Livia. »Wenn es stimmt, was Aziel sagt, und Lady Sarka den Verfall der Träume beschleunigt, können wir die Katastrophe aufhalten oder wenigstens hinauszögern, wenn wir sie vernichten. Der Phönix ist der Quell ihrer übermenschlichen Macht. Ohne ihn ist sie nur eine gewöhnliche Frau – und verwundbar.«

»Du willst sie töten?«, fragte Vivana.

»Wenn es sein muss.«

Vivana betrachtete die Gesichter ihrer Gefährten und sah nur grimmige Mienen. Alle schienen Livias Ansicht zu teilen, sogar Liam. Wir denken laut über Mord nach, dachte sie schaudernd. So weit sind wir also schon gekommen.

»Lucien hat gesagt, wir sollen nicht zu viel erwarten«, meinte Liam. »Wir sollten uns überlegen, was wir tun, wenn wir bei der Phönix-Sache nicht weiterkommen.«

»Hast du einen Vorschlag?«, fragte Vivana.

Der Blonde nickte. »Ich werde versuchen, mit Jackon zu sprechen. Wahrscheinlich ist ihm nicht klar, was er da angerichtet hat. Wenn er begreift, was geschieht, hilft er uns sicher.«

»Ich halte das immer noch für zu riskant«, wandte Vivanas Vater ein.

»Wieso? Niemand im Palast weiß, wer ich wirklich bin und dass ich das Buch habe. Wenn ich dort auftauche, wird es höchstens etwas Aufregung geben, weil man mich für tot gehalten hat. Mehr nicht. Für Lady Sarka und ihre Leute bin ich immer noch Liam Hugnall, der Hilfsgärtner. Und jetzt fangt nicht wieder damit an, dass Jackon mich verraten könnte. Das wird er nicht tun.«

»Gut. Versuch es«, sagte Tante Livia. »Aber sei vorsichtig.«

Aus dem Saal ertönten aufgeregte Stimmen. Bajo stürzte herein, in der Hand ein Messer. »Da ist so ein komischer Kerl. Er war plötzlich im Haus. Er sagt, er will zu dir.« Der Manusch nickte Vivanas Vater zu.

Die Gefährten drängten in den Saal. Zwischen den Tischen, umgeben von mehreren Manusch mit blankgezogenen Klingen, stand Godfrey. Wie immer trug er eine ausdruckslose Miene zur Schau. Die auf ihn gerichteten Waffen schienen ihn nicht zu beeindrucken.

»Hallo Nestor«, sagte er.

»Du?« Vivanas Vater war maßlos verblüfft. Er wandte sich an die Manusch. »Lasst ihn. Er ist ein Freund.«

Zögernd steckten Bajos Leute ihre Dolche und Messer weg.

Godfrey war in einen fadenscheinigen Tweedanzug gekleidet, und auf seinem Kopf saß eine Melone, die sein langes Gesicht betonte. Er war sehr blass, wie jemand, der an einer zehrenden Krankheit litt. Doch dieser Eindruck täuschte. Godfrey war nicht nur körperlich überaus kräftig, sondern kerngesund – sah man von dem Umstand ab, dass er sich gelegentlich in Aether verwandelte.

»Wie hast du mich hier gefunden?«, fragte Vivanas Vater.

»Du weißt doch, ich finde jeden, wenn ich will.« Godfrey besaß die merkwürdigste Stimme, die Vivana je bei einem menschlichen Wesen gehört hatte: gleichmäßig, fast tonlos und seltsam blechern.

»Das trifft sich gut. Ich wollte ohnehin mit dir reden. Also, was führt dich her?«

»Ich muss dich warnen. Meine Mittelsmänner haben mich darauf aufmerksam gemacht, dass du wieder in Bradost bist. Die Geheimpolizei ist hinter dir her. Corvas hat seine Krähen ausgeschickt. Seine Leute haben dein Haus und deine Werkstatt durchsucht und die Arbeiter verhört.«

Der Erfinder erbleichte. »Ich wusste es.«

Vivana machte sich nicht die Mühe nachzufragen, wie Godfrey von alldem erfahren hatte. In Bradost geschah kaum etwas, das er nicht früher oder später mitbekam. »Hat Lady Sarka herausgefunden, dass wir das Gelbe Buch gestohlen haben?«, fragte sie.

»Es geht um ein Buch, ja.«

Vivana biss sich auf die Lippe. Also doch. Sie warf ihrem Vater einen entschuldigenden Blick zu, aber er war zu bestürzt, um es zu bemerken.

»Dich suchen sie auch«, wandte sich Godfrey an Liam.

Liams Augen weiteten sich. »Mich? Aber sie halten mich doch für tot!«

»Jetzt nicht mehr«, erwiderte der Aethermann schlicht.

Vivanas Gedanken wirbelten wie verrückt durcheinander. Eine schlechte Nachricht folgte der nächsten... »Wissen sie, dass wir bei Bajo sind?«

»Nein. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Ihr müsst untertauchen.«

»Und wo?«

»Ich bringe euch zu meinem Versteck«, antwortete Godfrey. »Dort seid ihr sicher.«

Vivanas Vater rieb sich mit der gesunden Hand über das Gesicht. Er wirkte unsagbar müde. »Ich schätze, wir haben keine andere Wahl. Am besten gehen wir gleich, bevor wir Bajo noch in Gefahr bringen.«

Der Aethermann blickte Livia und Madalin an. »Ihr müsst mitkommen. Corvas wird früher oder später auch nach euch suchen.«

Damit hatte die Wahrsagerin offenbar gerechnet. Sie nickte. »Hol die Kinder«, bat sie Madalin.

»Was ist mit Bajo?«, fragte dieser.

»Wir bleiben hier«, erwiderte der stämmige Manusch. »Ich verlasse mein Haus nicht wegen ein paar Krähen und Spiegelmännern.«

»Bist du sicher? Was, wenn die Geheimpolizei auftaucht und euch verhören will?«

Bajo grinste breit. »Macht euch um uns keine Sorgen. Wir haben keine Angst vor diesem Pack. Wir sind bis jetzt immer mit ihnen fertiggeworden.«

Seine Brüder und Verwandten stimmten ihm grimmig nickend zu.

»Also gut«, sagte Livia. »Wir danken dir für alles, Bajo. Was ihr für uns getan habt, werden wir euch nie vergessen.«

Kurz darauf kam Madalin mit den Kindern zurück, und der große Abschied begann. Jähe Traurigkeit überkam Vivana, als sie sich unwillkürlich fragte, ob sie Bajo und seine Leute je wiedersehen würde. Vielleicht war es nur eine kurze Trennung, vielleicht überlebte keiner von ihnen die nächsten Tage. Beides war möglich. Niemand vermochte zu sagen, wie die Zukunft aussah.

Wenig später hatten sie ihre wenigen Habseligkeiten gepackt und verließen das Haus unauffällig durch den Hinterhof. Godfrey führte sie am Kanal entlang und wollte gerade in eine dunkle Gasse einbiegen, als Liam ihn am Arm festhielt.

»Da.« Er deutete zum Himmel, an dem mehrere Krähen kreisten.

Rasch versteckten sie sich unter einem Dachvorsprung. Madalin und Livia drückten die Kinder an sich und redeten beruhigend auf sie ein.

»Wie weit ist es bis zu deinem Versteck?«, fragte Lucien leise.

»Es liegt unter dem Kessel«, antwortete Godfrey.

»Aber das schaffen wir nie!«, stieß Vivanas Vater hervor. »Wahrscheinlich wimmelt es im Labyrinth nur so von Krähen.«

»Deswegen gehen wir durch die Katakomben.«

Sie warteten, bis die Vögel verschwunden waren, und huschten die Gasse entlang. Schließlich kamen sie zu einem rostigen Gitter im Kopfsteinpflaster. Godfrey hob es aus dem Rahmen, als wäre es aus Pappe. Ein Beweis seiner außergewöhnlichen Körperkraft.

»Hinunter mit euch. Du zuerst«, wies der Aethermann Vivana an.

Sie setzte einen Fuß auf die oberste Sprosse der eisernen Trittleiter, die an der Schachtwand befestigt war, und stieg vorsichtig in die Dunkelheit hinab. In der Tiefe rauschte Wasser; es roch nach Fäulnis, Exkrementen und Moder.