Sie stiegen eine Treppe aus rostigen Gitterplatten hinab, die so heftig knirschte und knarrte, dass Vivana fürchtete, sie könnte jeden Moment zusammenbrechen. Wider Erwarten kamen sie wohlbehalten unten an und gelangten in einen Tunnel, der anders beschaffen und wesentlich sauberer war als der Abwasserkanal. Ein alter Versorgungsgang, vermutete Vivana.
Nach etwa hundert Schritt sagte Godfrey: »Wir sind da.«
Liam hob seine Lampe. Ein Tor schälte sich aus der Finsternis und glitzerte im Licht. Es bestand ganz aus Stahl und Messing und war so massiv und prachtvoll verschnörkelt wie ein Kirchenportal.
Godfrey ging zu einer kleinen Messingplatte an der Tunnelwand. Sein Zeigefinger verwandelte sich in Aetherdampf, von dem ein winziger Teil in das Loch in der Platte strömte. Hydraulische Riegel und Schnappbolzen bewegten sich und sonderten zischend Dampf ab, bevor das Tor langsam aufschwang.
Lampen flammten auf und erhellten einen riesigen Saal, einen unterirdischen Dom.
»Herzlich willkommen in meinem Heim«, sagte Godfrey.
Vivana war sprachlos, als sie den Saal betrat. Sie hatte mit einem schmutzigen Schlupfwinkel gerechnet, mit einem schäbigen Loch irgendwo in den Kanälen, in dem sich Godfrey seit Jahren verstreckte – nicht damit. Der Dom war so hoch, dass das Haus ihres Vaters hineingepasst hätte. Simse und elegante Streben verliefen an den Ziegelsteinmauern und trugen die kuppelförmige Decke. Und überall standen Maschinen. Seltsame Apparate aus Kupfer, Eisen und Messing, durch Rohre und Drahtbündel miteinander verbunden. Manche klickten und surrten leise, andere standen still. Irgendwo knisterte ein gefangener Blitz in einer Rauchglasröhre. Vivana hatte nicht die geringste Vorstellung, welchem Zweck diese Gerätschaften dienten.
»Die meisten helfen mir dabei, die Tunnel in der Umgebung zu überwachen«, erklärte Godfrey, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Ein paar sind dazu da, mir das Leben hier unten ein wenig angenehmer zu machen.«
Staunend schauten sich die Gefährten um.
»Bitte nichts anfassen«, sagte der Aethermann, gerade als Liam die Hand nach einem teleskopartigen Gestänge ausstrecken wollte.
»Hier versteckst du dich also seit deinem Unfall«, meinte Vivanas Vater.
»Hier wohne ich.«
»Was war das früher? Eine Zisterne?«
»Ein Hauptsammler. Ich habe ihn gesäubert und umgebaut, nachdem er stillgelegt wurde.«
»Ich bin beeindruckt, Godfrey«, sagte der Erfinder, während er sich umblickte. »Wirklich beeindruckt.«
»Die ganzen Apparate«, sagte Vivana, »hat er die von dir?«
»Die meisten habe ich geplant. Aber gebaut hat er sie selbst. Er ist einer der geschicktesten Ingenieure, die ich kenne.«
Godfrey legte einen Hebel um, und das Tor schloss sich.
Warmes Licht ließ die Apparate und ihre Kolben, Kessel und Rohre schimmern wie geschliffener Porphyr. Godfrey führte sie zu einer geräumigen Nische, die so gemütlich wie eine Wohnstube eingerichtet war. Ledersessel standen um einen geschnitzten Tisch, Vitrinen enthielten Weingläser und Porzellangeschirr, es gab sogar einen Kamin. Eine Standuhr tickte leise vor sich hin. Die Wände waren mit Holz verkleidet, und Vorhänge aus schwerem Tuch hingen vor den Durchgängen zu weiteren Räumen. Eine eiserne Treppe führte zwischen den Maschinen zu einer Plattform hinauf, auf der Stellwände ein Bett und mehrere Holztruhen umgaben.
»Ihr könnt dahinten schlafen«, sagte ihr Gastgeber, während er im Kamin Feuer machte. »Ich habe genug Feldbetten für alle. Ihr müsst sie nur aufstellen. Essen dürfte für einen Monat reichen, wenn wir es uns einteilen. Brot, Käse und Pökelfleisch findet ihr in den Fässern, der Rest ist im Eiskeller da drüben. Fragt, wenn ihr etwas braucht. Stimmt etwas nicht?«, wandte er sich an Lucien.
Der Alb wirkte in der Tat nicht besonders glücklich. »Nur zu viele Maschinen für meinen Geschmack. Ich gewöhne mich schon daran.«
»Gut. Fühlt euch wie zuhause.«
»Danke, Godfrey«, sagte Vivanas Vater schlicht.
Der Aethermann nickte. »Möchte jemand einen Tee?«
Nachdem sie sich gestärkt hatten, bauten Liam und seine Gefährten die Feldbetten auf und machten sich frisch. Es stellte sich heraus, dass Godfreys Heim alle Annehmlichkeiten eines modern eingerichteten Hauses besaß: mehrere Schlafräume, eine Küche, eine kleine Bibliothek, sogar ein Badezimmer. Ein Apparat pumpte Flusswasser in das Versteck und filterte und erhitzte es, sodass Liam sich den Schmutz von ihrer Wanderung durch die Kanäle abwaschen konnte. Zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr vom Pandæmonium fühlte er sich einigermaßen sicher. Hier fanden die Spiegelmänner sie nie.
Müde schlurfte er zu seiner Unterkunft und legte sich ins Bett. Als er gerade am Einschlafen war, öffnete sich die Tür, und eine Gestalt huschte herein.
»Darf ich bei dir schlafen?«, fragte Vivana leise.
»Klar«, antwortete Liam zögernd.
Sie schlüpfte unter die Decke und schmiegte sich an ihn. Unbeholfen legte er den Arm um sie. Sie hatte ein Bad genommen und duftete wunderbar, er spürte ihre nackten Schenkel und die Rundungen unter ihrem Schlafrock. Dass sie so bei ihm lag, war der Traum eines jeden Jungen – und doch wünschte er in diesem Moment, sie wäre nicht zu ihm gekommen.
Dieser Ekel vor seinem eigenen Körper... Dieses Gefühl, die Bosheit des Dämons sei ein Teil von ihm geworden, und er könne sie nie wieder abschütteln... Die Eiseskälte in seinem Innern... Er konnte es einfach nicht. Am liebsten wäre er aufgesprungen und fortgelaufen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Vivana besorgt.
»Ich glaube, es ist besser... Ich meine, würde es dir etwas ausmachen, in deinem Bett zu schlafen?«
Er spürte, dass sie ihn in der Dunkelheit anblickte. »Ist es deswegen?«, fragte sie.
»Ja.«
Sie küsste ihn auf die Wange und kletterte aus dem Bett.
»Es tut mir leid«, sagte er.
»Du kannst doch nichts dafür. Schlaf gut.« Sie versuchte, unbeschwert und aufmunternd zu klingen.
Dann ging sie.
Liam lag auf dem Rücken, starrte in die Finsternis und fühlte sich wie tot.
36
Jackons Plan
Das ganze Labyrinth schien zu wissen, dass sie kamen. Überall verrammelte Türen und Fensterläden und kaum eine Menschenseele auf der Straße. Kein Wunder, dachte Umbra und warf den acht Spiegelmännern, die Corvas, Amander und ihr folgten, einen finsteren Blick zu. Als ob wir das nicht allein hingekriegt hätten.
Sie hatte lausig geschlafen in den letzten Nächten, und dieser Auftrag trug nicht dazu bei, ihre Laune zu heben.
»Ich hab’s dir gesagt«, meinte Amander. »Du hättest ein Schattentor machen sollen.«
»Für elf Leute? Wie soll das gehen, du Schlaumeier?«
»Deine Sache.«
Sie hatte schon einmal versucht, eine größere Gruppe durch ein Schattentor zu führen – und sich anschließend geschworen, es nie wieder zu tun. Zu viel Unruhe in der Zwischenwelt lockte Dinge an. Außerdem war es schon beinahe Nacht. »Jetzt hör mir mal zu«, begann sie gereizt, doch Corvas unterbrach sie.
»Hört auf«, sagte er und wies auf ein Straßenschild.
Sie waren da.
Corvas befahl den Spiegelmännern, sich so vor der alten Schnapsbrennerei zu verteilen, dass niemand unbemerkt das Gebäude verlassen konnte. Amander postierte sich mit zwei Homunculi auf der Rückseite und behielt den zum Kanal offenen Hof im Auge. Dutzende von Krähen hatten sich auf dem Dach niedergelassen. Es hatte etwas Gespenstisches, wie die Vögel dasaßen und mit ihren Knopfaugen die Gasse beobachteten. Kein Einziger krächzte. Es herrschte vollkommene Stille.