Corvas klopfte an. Ein stämmiger Manusch öffnete die Tür und blickte seinen Besucher wenig freundlich an.
»Bist du Bajo?«
Der Manusch nickte knapp.
»Wir suchen den Wissenschaftler Nestor Quindal, seine Tochter Vivana Quindal und einen jungen Mann namens Liam Satander, der sich möglicherweise Liam Hugnall nennt. Sie sind Hochverräter und Feinde Bradosts. Wir wissen, dass du ihnen Unterschlupf gewährst.«
»Du irrst dich«, sagte Bajo. »Sie sind nicht hier.«
»Ich warne dich. Dich uns zu widersetzen kommt dich teuer zu stehen.«
Der Manusch verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust. »Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen. Ich bin ein ehrlicher Mann. Ich kenne diesen Quindal nicht einmal.«
»Lass uns eintreten.«
»Nein.«
Corvas wollte ihn zur Seite schieben, doch Bajo presste ihm die Hand auf die Brust.
»Niemand dringt mit Gewalt in mein Haus ein. Auch du nicht, alte Krähe.«
»Ergreift ihn«, befahl der Bleiche zwei Spiegelmännern.
Einige Krähen spreizten ihr Gefieder. Umbra fuhr herum, als sie eine Bewegung im Laternenlicht bemerkte. »Corvas!«, murmelte sie warnend.
Die Türen der Nachbarhäuser hatten sich geöffnet. Überall tauchten Manusch auf, schwarze Schemen in den Schatten. Viele waren bewaffnet; Dolche blitzten auf, schwielige Hände hielten Knüppel und Axtschäfte.
Auch hinter Bajo erschienen Gestalten und blickten grimmig drein.
»Was du da tust, ist Verrat«, sagte Corvas schneidend.
»Wir Manusch stehen füreinander ein«, erwiderte Bajo. »Richte deiner Herrin aus, wenn sie auch nur einem von uns schadet, herrscht Krieg im Labyrinth. Und jetzt geht. Geht und sucht woanders nach euren Feinden.«
Er schloss die Tür.
Corvas taxierte die Manusch in den Schatten, als wäge er ab, ob sie es mit ihnen aufnehmen konnten. Umbra spannte sich innerlich an und machte sich bereit, nach ihrer Pistole zu greifen. Schließlich wandte sich der Schwarzgekleidete ab und schritt mit maskenhafter Miene die Gasse entlang. Umbra ließ leise den angehaltenen Atem entweichen und folgte ihm und den Spiegelmännern.
Die Manusch griffen sie nicht an, bedrohten sie nicht einmal. Sie standen einfach da und starrten ihnen nach.
Am Ausgang der Gasse stieß Amander zu ihnen. »Was zum Teufel war das?«, fragte er, während sie zu den Kutschen zurückgingen.
»Gar nichts«, sagte Corvas. Er hob den Arm, und eine Krähe landete darauf.
»Und jetzt? Holen wir die restlichen Spiegelmänner und knöpfen sie uns vor?«
»Nein.«
»Du willst das diesem Pack doch nicht durchgehen lassen.«
»Ich will keinen Krieg.«
»Du glaubst, Bajo macht Ernst mit seiner Drohung?«, fragte Umbra.
»Es hat einen Grund, dass wir die Manusch all die Jahre in Frieden gelassen haben.«
»Ich wusste nicht, dass Quindal Freunde bei ihnen hat.«
»Es scheint, es gibt vieles, das wir nicht über ihn wussten.«
Voller Unbehagen betrachtete Umbra die heruntergekommenen Fassaden, an denen Plakatreste klebten. Im Labyrinth hatte sie sich noch nie wohlgefühlt. Zu viele Geheimnisse für ihren Geschmack. »Also warten wir ab.«
»Ja. Er kann sich nicht ewig verstecken.« Corvas raunte der Krähe etwas zu, woraufhin der Vogel mit den Flügeln schlug und krächzend in den Nachthimmel aufstieg.
»Gut«, meinte Umbra missmutig. »Aber ich erkläre das nicht der Herrin.«
Jackon landete in der Gasse und näherte sich Liams Seelenhaus mit klopfendem Herzen. Just in diesem Moment waren Umbra, Corvas und Amander im Labyrinth und suchten nach seinem Freund. Das war seine letzte Chance.
Da – ein Flackern in den Fenstern der Sternwarte. Jackon hätte am liebsten laut gejubelt. Er hatte es gewusst – Liam träumte wieder!
Er öffnete die Tür und trat ein. Drinnen umfingen ihn Träume, ähnlich düster und bedrückend wie beim letzten Mal. Vorsichtig streifte er durch die Schatten und wich flüsternden Gestalten aus, bis er Liam fand. Sein Freund irrte durch ein Ruinenfeld und rief nach jemandem, doch seine Stimme verhallte zwischen den uralten Mauern.
»Hallo Liam«, sagte Jackon und lächelte.
Der Blonde prallte vor Schreck zurück und fiel hin. »Wer... wer bist du?«
»Erkennst du mich nicht? Ich bin’s, Jackon. Dein Freund.«
Liams Augen weiteten sich vor Grauen. Er rappelte sich auf und ergriff stolpernd die Flucht.
»Warte! Ich will doch nur mit dir reden.«
Jackon fiel es nicht schwer, ihm zu folgen, aber immer, wenn er ihn einholte, wurde Liams Entsetzen noch größer. Der Blonde schien ihn für einen der Schatten zu halten, die ihn bedrängten, für eine Ausgeburt seiner Albträume. Solange er in seinen Träumen gefangen war, würde es kaum möglich sein, mit ihm zu sprechen.
Jackon ließ die Ruinen und die wispernde Dunkelheit verschwinden. Traumgebilde fielen zusammen und wurden wieder zu silbriger Rohmaterie. Liam fand sich in den kahlen Fluren seines Seelenhauses wieder und schaute sich verwirrt um.
»Hab keine Angst«, sagte Jackon. »Du träumst nur. Dir kann nichts geschehen.«
Das Grauen hatte Liam nach wie vor fest im Griff, doch wenigstens lief er jetzt nicht mehr davon. Er hatte sich kein bisschen verändert, sah noch genauso aus, wie Jackon ihn in Erinnerung hatte. Jackon hätte beinahe geweint vor Freude.
»Wo warst du? Ich dachte, du bist tot.«
»Jackon?«, fragte Liam zögernd.
»Ja. Du erinnerst dich doch an mich, oder?«
»Was tust du hier?«
»Ich wollte dich sehen.«
»Du bist kein richtiger Traum, nicht wahr?«
»Ich bin ein Traumwanderer. Ich kann andere Leute in ihren Seelenhäusern besuchen, wenn sie träumen.«
»Traumwanderer«, murmelte Liam, als erinnere er sich an etwas. Dann wurden seine Augen glasig, bevor neue Furcht darin aufflackerte. Langsam wich er zurück.
Jackon befürchtete, dass Liam bereits wieder vergaß, wer vor ihm stand. So etwas geschah leicht, wenn man keine Übung darin hatte, im Traum seine Gedanken zu fokussieren. Er durfte ihn nicht verwirren. Es war am besten, er hielt das Gespräch so kurz wie möglich.
»Hör zu. Du bist in großer Gefahr. Corvas sucht nach dir.«
Der Blonde blieb stehen, und sein Blick wurde ein wenig klarer. »Wir haben uns versteckt. Er kann uns nicht finden.«
»Corvas weiß, dass ihr bei den Manusch seid.«
»Nicht bei den Manusch. Woanders.«
Jackon atmete innerlich auf. Entweder besaß Corvas falsche Informationen, oder Liam und seine Freunde waren bereits geflohen. Das war gut, denn es verschaffte ihm die Zeit, die er brauchte.
»Wo seid ihr jetzt?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
Liam schlurfte zu einem Fenster und blinzelte verwundert, als er die anderen Seelenhäuser sah. Er hatte offenbar völlig vergessen, dass er nicht allein war.
Jackon legte ihm die Hand auf den Arm. Mit gerunzelter Stirn blickte der Blonde ihn an.
»So geht das nicht. Du musst dich auf mich konzentrieren.«
»Was ist das für eine Stadt da draußen?« »Die Stadt der Seelen. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Wir müssen miteinander reden.«
»Worüber?«
Es hatte keinen Sinn. Liam besaß keine Erfahrung darin, in den Träumen ein Gespräch zu führen. Er würde immer wieder abschweifen und am Ende vermutlich alles vergessen.
»Pass auf«, sagte Jackon und schaute seinem Freund fest in die Augen. »Wir müssen uns in Bradost treffen. Komm morgen Früh zu der Gießerei im Kessel. Du weißt schon – da, wo wir einen Ausgang gefunden haben, als wir uns in den Kanälen verirrt hatten. Ich erwarte dich dort gegen sieben.«