»Ich weiß nicht«, sagte Liam. »Jackon geht davon aus, dass ich allein komme. Vielleicht fühlt er sich hintergangen, wenn ich jemanden mitbringe.«
»Ich sorge schon dafür, dass er mich nicht sieht.«
Liam dachte darüber nach. Luciens Vorschlag klang vernünftig. »Also gut. Aber wir sollten gleich losgehen. Sonst komme ich zu spät.«
Sie schlüpften in ihre Kapuzenumhänge. Lucien legte außerdem den Gürtel mit seinen Messern an.
»Sei vorsichtig, ja?«, flüsterte Vivana und drückte Liams Hand.
Godfrey ging mit ihnen zum Portal. »Kennst du den Weg nach oben?«
»Ja«, antwortete Lucien.
Der Aethermann legte den Hebel um, und das Tor öffnete sich zischend wie die Schleuse eines gewaltigen Stauwerks.
38
Liam und Jackon
Liam und Lucien verließen die Kanäle am Rand des Kessels, wo der Tunnel in ein altes Abwassersammelbecken mündete. In der Nacht hatte es wieder geregnet, und zwischen den Haufen aus Schutt bildete das Wasser rostige Pfützen. Zwei zerlumpte Schlammtaucher wühlten im Müll und verschwanden in einem der mannshohen Rohre, als ein Arbeiter, der zufällig des Weges kam, fluchend einen Stein nach ihnen warf.
Lucien machte sich unauffällig, bevor sie ins Freie traten. Liam eilte mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze die Treppe hinauf und stapfte durch den grauen Morgen.
Rauch und goldener Aetherdampf hingen zwischen den Bleidächern der Manufakturen. Aus den Toren und Hinterhöfen drangen Hämmern, Gebrüll und das Stampfen der Maschinen. Eine gereizte Stimmung lag in der Luft. Viele Arbeiter sahen aus, als hätten sie seit Tagen nicht geschlafen. Zwei Mechaniker mit geröteten Augen stritten lautstark und begannen, sich auf offener Straße zu prügeln, bis ein bulliger Vorarbeiter sie mit Gewalt trennte und in die Werkhalle zurückscheuchte. Liam wünschte, er könnte sich wie Lucien unauffällig machen. Es war noch nie angenehm gewesen, sich im Kessel aufzuhalten – jetzt aber war es gefährlich.
Er hielt sich von den belebten Straßen fern und gelangte kurz darauf zu der Gießerei. Zu seiner Überraschung waren Fenster und Tore des Gebäudes vernagelt. Offenbar hatte man die Fabrik vor Kurzem stillgelegt. Liam ging zu der Seitengasse, wo sich der Nebeneingang befand, durch den Jackon und er damals geflohen waren. Ein Loch klaffte im morschen Holz der Tür. Verwischte Stiefelspuren befanden sich im Schmutz auf dem Pflaster.
»Geh allein hinein«, erklang Luciens Stimme aus dem Nichts. »Ich warte hier auf dich.«
»Wieso kommst du nicht mit?«
»Jackon hat Magie im Blut. Er kann mich sehen. Ruf mich, wenn es Probleme gibt.«
Liams Herz klopfte heftig, als er sich durch den Spalt zwängte. Für ihn war es erst ein paar Tage her, dass er Jackon das letzte Mal gesehen hatte, für seinen Freund dagegen waren seitdem mehrere Monate vergangen – sehr ereignisreiche Monate obendrein. Er konnte überhaupt nicht einschätzen, was ihn erwartete.
Stille erfüllte die dämmrige Halle. Die Hochöfen waren erkaltet, die Maschinen setzten Staub und Rost an. Liam konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie aus dem Schacht gekrochen waren, heilfroh, endlich einen Ausgang aus dem unterirdischen Labyrinth gefunden zu haben. Was für ein Tag das gewesen war! Die Arbeiter hatten sie für Ghule gehalten. Einer hätte Jackon sogar um ein Haar den Schädel eingeschlagen, wenn Liam nicht dazwischengegangen wäre. Sie waren gerannt wie der Teufel und hatten anschließend gelacht, bis sie keine Luft mehr bekamen.
An jenem Tag waren sie Freunde geworden. Sind wir das immer noch?, fragte er sich bang.
Er schlug seine Kapuze zurück. Rost knirschte unter seinen Sohlen. Viele Maschinen hatte man ausgeschlachtet, und ihre Blechverkleidungen lagen herum wie die ausgehöhlten Gehäuse riesiger Insekten.
»Jackon?«, rief er in die Stille hinein.
Eine Gestalt erschien zwischen den Hochöfen.
»Liam.« Jackon lächelte schüchtern. »Du bist gekommen.«
Für einen Moment standen sie schweigend da, und jeder musterte den anderen. Dann umarmten sie einander zögernd.
Wie anders Jackon aussah... Anstelle seiner schlichten Arbeitskleider trug er nun einen feinen Gehrock mit Halbstiefeln und Gamaschen. Seinen Hut hatte er unter den Arm geklemmt, sein widerspenstiges rotes Haar war kurz geschnitten und mit Pomade gescheitelt. Doch nicht nur sein Äußeres hatte sich verändert. Er wirkte selbstbewusster und nicht mehr so unscheinbar, und in seinem Gesicht lag ein Zug, der früher nicht da gewesen war. Ein herrischer Zug, stellte Liam fest. Unwillkürlich musste er an Luciens Worte denken: Das ist nicht mehr der Jackon, den du kennst.
»Bist du allein?«
»Ja«, antwortete Jackon. Die nächsten Worte sprudelten nur so aus ihm heraus: »Bei Tessarion, wo warst du denn die ganze Zeit? Alle haben gedacht, du wärst verbrannt!«
»Ich war im Pandæmonium.«
»Was?«
»Seth hat das getan. Er hat mich durch eine Art Tor gestoßen. Aber ich konnte entkommen. Vivana und Lucien haben mir geholfen.«
»Du machst Witze, oder?«
»Es ist die Wahrheit. Ich schwöre es.«
Jackon biss sich auf die Lippe und blickte ihn verlegen an. »Du brauchst mich nicht anzulügen, Liam. Ich weiß, was los ist.«
»So?«
»Du hast das Buch gestohlen und bist untergetaucht. Ich weiß auch, dass du nicht Liam Hugnall heißt, sondern Liam Satander, und dass du gar nicht aus Torle kommst. Das stimmt doch, oder?«
Liam gab auf. Sollte Jackon glauben, was er wollte. Es machte keinen Unterschied.
Der Rothaarige interpretierte sein Schweigen offenbar als Zustimmung. »Wieso hast du mir das verschwiegen?«
»Es ging nicht anders. Dich einzuweihen wäre zu gefährlich gewesen.«
»Na ja. Macht nichts«, murmelte der Rothaarige. »Ich habe dir ja auch nicht alles gesagt.«
»Das kann man wohl sagen«, meinte Liam. »Ein Traumwanderer, was?«
»Genau.«
»Wie kam es dazu? Ich meine, woher hast du diese... Kräfte?«
»Keine Ahnung. Sie sind einfach da.« Jackon zögerte, bevor er fortfuhr. »Früher war ich ein Schlammtaucher, musst du wissen. Ich habe in den Kanälen gewohnt, in der Grambeuge. Lady Sarka hat mich gefunden und in den Palast geholt. Sie hat mir geholfen, meine Kräfte richtig zu benutzen.«
»Du stehst jetzt in ihren Diensten, habe ich gehört.«
»Ich gehöre zu ihrer Leibwache. Ich wohne jetzt bei Umbra, Corvas und Amander. Ich habe sogar einen eigenen Diener.«
»Das klingt, als würde es dir gefallen.«
»Es ist eine gute Arbeit. Die Herrin sorgt für uns. Und die Leute respektieren mich.«
Ja, Jackon hatte sich verändert. Und nicht zum Guten, ahnte Liam. »Aber es ist falsch, Jackon.«
»Wieso?«
»Na, sieh doch, was sie aus Bradost gemacht hat.«
»Sie ist eine gute Herrscherin«, erklärte Jackon seltsam steif, beinahe so, als gebe er etwas Auswendiggelerntes wieder. »Sie sorgt für Ordnung und Wohlstand.«
Liam konnte nicht glauben, was er da hörte. »Das ist nicht dein Ernst, oder? Sie wirft jeden ins Gefängnis, der ihr nicht passt. Sie lässt Leute umbringen.«
»Sie hat eben viele Feinde. Wer auf ihrer Seite steht, hat nichts zu befürchten.«
»Und was ist mit meinem Vater? Corvas hat ihn ermordet, nur weil er ein Buch gesucht hat!«
»Das war ein Unfall.«
»Ein Unfall?« Liam musste sich beherrschen, nicht zu schreien.
Jackon fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. »Umbra hat mir davon erzählt. Corvas wollte deinen Vater nur befragen. Wenn er sich nicht gewehrt hätte, wäre das nicht passiert.«