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Gestern noch hätte Liam diese Frage eindeutig mit Ja beantwortet. Aber jetzt? Er wusste es nicht. Es kam ihm so vor, als hätte er in der Gießerei eine völlig andere Person getroffen.

»Was, wenn er irgendwie herauszufindet, wo wir uns verstecken?«, fuhr der Erfinder fort.

»Wäre das möglich?«, fragte Vivana Lucien.

»Natürlich. Träume spiegeln eure geheimsten Wünsche und Gedanken wider. Ein Beobachter kann leicht Schlüsse daraus ziehen.«

»Also, was sollen wir machen?«, fragte Madalin. »Nicht mehr schlafen?«

»Zunächst einmal betrifft das nur Liam und Vivana, vielleicht noch Nestor«, erwiderte der Alb. »Den Rest von euch kennt Jackon nicht. Ich glaube nicht, dass ihr in Gefahr seid. Und nicht zu schlafen ist natürlich keine Lösung. Es genügt, wenn ihr eure Träume unterdrückt. Es gibt Tränke, die das bewirken.«

»Allerdings sind sie nicht ungefährlich«, gab Livia zu bedenken.

»Nur wenn man sie über mehrere Wochen regelmäßig einnimmt. Ein paar Tage dürften kein Problem sein. Und bis dahin haben wir vielleicht eine andere Lösung gefunden.«

»Könntest du so einen Trank brauen?«, erkundigte sich Vivana bei ihrer Tante.

»Dazu müsste ich erst die Ingredienzen besorgen. Ich schätze, es ist einfacher, einen im Chymischen Weg zu kaufen.«

»Darum kümmere ich mich«, bot Godfrey an.

»Also gut«, sagte Livia widerstrebend. »Vivana und Nestor nehmen den Trank. Aber Liam nicht.«

»Warum?«, fragte Liam.

»Du bist immer noch geschwächt und brauchst gesunden Schlaf. Dazu gehört, dass du träumst.«

»Dann machen wir es anders«, sagte Lucien. »Ich passe auf sein Seelenhaus auf, während er schläft. Wenn Gefahr droht, wecke ich ihn. Einverstanden, Liam?«

Es war noch keine zwei Stunden her, da hatte Liam gedacht, Jackon wäre sein Freund – und jetzt brauchte er auf einmal ein Schattenwesen, das ihn vor dem Rothaarigen beschützte. »Wenn ihr das für nötig haltet«, meinte er. Dann schob er seinen Stuhl zurück und stand auf.

»Wo willst du hin?«, fragte Vivana.

»Ich muss ein paar Minuten allein sein«, murmelte Liam und schlurfte zu seiner Unterkunft.

Eine Stunde später saß Lucien in einer Ecke der Halle und schärfte seine Messer. Es half ihm beim Nachdenken.

Seine menschlichen Gefährten taten ähnliche Dinge. Einige hatten sich hingelegt, andere schlugen die Zeit tot, indem sie ihre Kleider wuschen oder Geschirr spülten. Jeder versuchte auf seine Weise, mit der Ausweglosigkeit fertigzuwerden. Sie taten ihm leid. Er konnte in der Anderwelt Zuflucht suchen, wenn es ihm in der Welt der Menschen zu gefährlich wurde. Alles, was er dafür tun musste, war, mit dem Harlekin zu reden. Seine Freunde hatten diese Möglichkeit nicht. Sie mussten hierbleiben, egal, was geschah.

Er war zornig. Auf sein Volk, auf Lady Sarka, auf alle, die die Verantwortung dafür trugen, dass es so weit gekommen war. Auch auf sich selbst, weil er nicht früher eingegriffen hatte.

Aber vielleicht gab es noch eine winzige Chance.

Lucien dachte an Geschichten, die so alt waren, dass sich kaum jemand an sie erinnerte. An Spiegel in der Dunkelheit. Bleiche Gesichter. Vergessene Flüche.

Vielleicht konnten sie helfen. Allerdings verlangten sie immer einen Preis.

Er brauchte mehr Zeit. Musste sich umhören, Nachforschungen anstellen, Gefahren abwägen.

Der Wetzstein glitt über schimmernden Stahl, vom Heft zur Spitze, wieder und wieder.

39

Der Preis der Macht

Mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Kopf stapfte Jackon durch den Nieselregen, die Fäuste in den Manteltaschen geballt, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Die Nässe durchweichte seine Kleidung und drang ihm bis auf die Haut, doch er spürte sie genauso wenig wie den feuchtkalten Wind, der ihm ins Gesicht blies.

Gemeinsam schaffen wir es vielleicht, sie aufzuhalten, hallten Liams Worte in ihm nach. Sieh doch, was sie aus Bradost gemacht hat... Eine Despotin... Eine Mörderin...

So redete ein Verschwörer, ein Aufrührer und Verräter. Die Attentäter hatten sich wahrscheinlich genauso angehört, als sie zusammensaßen, um den Mordanschlag auf Lady Sarka zu planen. Unfassbar, dass Liam glaubte, er könnte ihn dazu bringen, bei so einer törichten und irrwitzigen Idee mitzumachen. Er musste ihn für einen Narren und Einfaltspinsel halten, schlimmer noch: für jemanden, der mir nichts, dir nichts jemanden verriet, der so viel für ihn getan hatte.

Dabei war Liam immer so vernünftig gewesen. Als Jackon heute Morgen zur Gießerei gegangen war, hatte er keinen Moment daran gezweifelt, dass er seinen alten Freund davon überzeugen könnte, das Buch zurückzugeben. Nicht im Traum hatte er mit so viel Zorn und Verbitterung gerechnet. Gewiss, Liam hatte seinen Vater verloren, aber deshalb warf man doch nicht gleich sein ganzes Leben fort. Außerdem war es ungerecht, Lady Sarka die Schuld daran zu geben. Hätte Liams Vater nicht nach dem Buch gesucht, wäre er noch am Leben. Deswegen gegen die Lady zu kämpfen, war nicht nur falsch, es war einfach dumm.

So dumm...

Die Wut, die Jackon beim Verlassen der Gießerei verspürt hatte, wich dumpfer Traurigkeit. Liam hatte ihm klargemacht, wo er stand, und würde seine Meinung niemals ändern. Er hasste Lady Sarka und war ihr Feind.

Wie konnten sie unter diesen Umständen Freunde sein?

Die Antwort war so simpel wie eindeutig: gar nicht. In dem Augenblick, als er durch die Tür gegangen war, hatte er den einzigen Freund verloren, den er je gehabt hatte.

Wie betäubt schlurfte er durch die Altstadt, nahm keine Notiz von den Menschen in den Gassen, bemerkte es nicht, wenn jemand ihn grüßte. Das Palastgebäude betrat er durch einen Nebeneingang, den weder die Diener noch Umbra und die anderen je benutzten. Er wollte niemandem begegnen, mit niemandem sprechen. In seinem Zimmer schloss er die Tür hinter sich ab, zog seine nassen Sachen aus und legte sich aufs Bett.

Feine Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheiben. Hinter den Wasserschlieren auf dem Glas wirkten die Bäume und die fernen Stadthäuser verschwommen und unwirklich, wie ein Gemälde, dessen Farben verliefen.

Er wünschte, dies wäre ein Traum. Im Traum müsste er nur mit den Fingern schnippen, und alles wäre so, wie es sein sollte. Es gäbe kein Buch, keinen sinnlosen Hass, und Liam und er säßen in der Sonne unter den Bäumen und würden sich lachend an ihre Abenteuer in den Kanälen erinnern. Aber dies war die Wachwelt, und es gab nichts, das er tun konnte.

Nichts.

Energisches Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken.

»Mach die verdammte Tür auf, Jackon!«, befahl Lady Sarka.

Seufzend fragte er sich, was jetzt wieder geschehen war. Er zog ein frisches Wams und trockene Hosen an und schloss auf. Lady Sarka rauschte an ihm vorbei ins Zimmer.

»Wo warst du heute Morgen?«, fuhr sie ihn an.

Jackon erstarrte innerlich. Konnte es sein, dass sie davon wusste? Er war doch so vorsichtig gewesen. »Na, hier«, antwortete er und spielte den Ahnungslosen.

»Lüg mich nicht an! Ich habe gesehen, dass du den Palast verlassen hast.«

»Ich konnte nicht schlafen und habe einen Spaziergang gemacht.« Er zuckte mit den Achseln. »Mache ich manchmal.«

»Zum Kessel? Bei strömendem Regen?«

»Wer hat Euch gesagt, dass ich im Kessel gewesen bin?«

»Eine von Corvas’ Krähen.«

Ihm war, als setze sein Herz einen Schlag aus. »Ihr... lasst mich beobachten?«

»Für wie dumm hältst du mich?«, fragte Lady Sarka, und ihre Augen glitzerten wie Eiskristalle. »Hast du wirklich gedacht, du könntest mich hintergehen?«