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»Ich habe Euch nicht...«

»Du bist ein lausiger Lügner«, unterbrach sie ihn scharf. »Gestern Abend, als es dir angeblich so schlecht ging, dass du dich hinlegen musstest – da bist du doch zum Seelenhaus deines Freundes gegangen, richtig? Wie lange verheimlichst du mir schon, dass er wieder träumt?«

Jackon öffnete den Mund, aber seine Stimme versagte ihm ihren Dienst. »Ihr... wart dort?«, brachte er schließlich hervor.

»Nein. Aber ich habe es in deinen Augen gesehen. Ich kann in dir lesen wie in einem offenen Buch, falls du es noch nicht gemerkt hast.«

Er fürchtete, seine Knie könnten unter ihm nachgeben. Langsam sank er in den Sessel.

»Wie lange?«, wiederholte sie.

»Ich wollte Euch nicht belügen, Herrin«, stammelte er. »Es ist nur so, dass ich... Liam und ich sind... ich meine... Ich dachte, ich müsste etwas unternehmen, und da...«

»Hast du ihn gewarnt, damit er sich rechtzeitig in Sicherheit bringen kann.«

»Nein! So war es nicht. Wirklich!«

»Wieso hast du dich dann mit ihm in der Gießerei getroffen?«

»Gießerei?«, echote er schwach.

»Die Krähe hat gesehen, wie er kurz nach dir das Gebäude verlassen hat«, sagte die Lady.

Jackon schluckte. Es hatte keinen Sinn, es abzustreiten. Sie wusste alles. Er verspürte ein seltsames Ziehen, das in der Nackengegend begann und sich bis unter seine Schädeldecke fortpflanzte. Wurde er jetzt ohnmächtig? Vielleicht wäre das am besten.

»Also, was habt ihr dort getrieben?«

»Nichts. Nur geredet. Ich wollte ihn dazu bringen, sich zu stellen und das Buch zurückzugeben. Aber das wollte er nicht. Wir haben uns gestritten, und dann bin ich gegangen.«

»Weswegen habt ihr gestritten?«

»Er wollte mich überreden, Euch zu verraten.«

»Aber das hast du abgelehnt.«

»Natürlich.«

»War das alles?«

Angestrengt versuchte Jackon, sich an das Gespräch zu erinnern. Seine Gedanken wirbelten so wild durcheinander, dass es ihm kaum gelang, einen davon festzuhalten. »Liam hat komische Sachen gesagt. Dass durch das Durcheinander in den Träumen irgendwelche Mauern zusammenbrechen und es bald überall von Dämonen wimmelt. Und dass man Euch aufhalten müsste, um das zu verhindern.«

»Welche Mauern?«

»Die des Pandæmoniums.«

»Diesen Unsinn hast du geglaubt?«

»Nicht so richtig.« Er befeuchtete seine Lippen. »Ist es denn Unsinn?«

Lady Sarka gab keine Antwort. »Und danach bist du einfach gegangen?«

Er nickte.

»Hast du ihn wenigstens gefragt, wo er sich versteckt?«

»Nein. Er hätte es mir ohnehin nicht verraten.«

»Lügst du schon wieder?«, fragte sie bohrend.

»Ich weiß nicht, wo Liam hingegangen ist«, beteuerte er. »Wirklich nicht!«

Lady Sarka blickte ihn stechend an. Am liebsten wäre er im Polster des Sessels versunken. »Dann finde es heraus«, befahl sie schließlich.

Er blinzelte. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, was sie da von ihm verlangte. »Das... das kann ich nicht«, sagte er.

»Natürlich kannst du. Wofür hast du denn deine Fähigkeiten? Heute Nacht gehst du wieder zu seinem Seelenhaus und schaust dir seine Träume an. Bestimmt findest du irgendeinen Anhaltspunkt, wo sie sich verkrochen haben. Oder du bringst ihn dazu, es dir zu sagen. Lass dir eben etwas einfallen. Aber nimm dich vor dem Alb in Acht. Er ist schlau; er wird sich denken, was wir vorhaben. Vermutlich passt er auf Liam auf.«

»Und wenn Liam mich erkennt?«

»Sorgst du eben dafür, dass das nicht passiert. Jetzt sei doch nicht so schwer von Begriff!«

Jackon schluckte erneut. Dann schüttelte er den Kopf. »Das geht nicht.«

»Ach nein? Und wieso nicht, wenn ich fragen darf?«

»Ich liefere niemanden aus. So etwas tut man einfach nicht.«

»Sie sind Verräter! Feinde! Sie würden mich töten, wenn sie könnten. Dein Anstand in Ehren, aber er ist hier reichlich fehl am Platz.«

»Trotzdem. Es ist nicht richtig.« Eine mahnende Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass es Wahnsinn war, was er gerade tat. Nicht einmal Umbra und Corvas wagten es, sich so offen gegen Lady Sarka zu stellen. Doch er konnte nicht aufhören. Er fühlte sich wie jemand, der schnurstracks auf einen Abgrund zuschritt und trotzdem nicht in der Lage war, stehen zu bleiben.

»Ich glaube, du begreifst nicht, worum es hier geht«, sagte sie schneidend. »Das Buch ist gefährlich. In den falschen Händen kann es unermesslichen Schaden anrichten. Willst du das?«

»Nein. Aber ich will auch nicht, dass Liam meinetwegen ins Gefängnis kommt. Auch wenn er es vielleicht verdient hat.«

Lady Sarkas Zorn war so intensiv, dass Jackon ihn körperlich spüren konnte. Seine Wangen brannten, und das Atmen fiel ihm schwer. »Du denkst, er ist immer noch dein Freund, was? Du kleiner, dummer Narr. Er hat dich betrogen. Er wollte dich benutzen. Wäre er an deiner Stelle, würde er keine Sekunde zögern, dich fallen zu lassen.«

Vielleicht hatte sie Recht mit dem, was sie sagte. Doch das spielte keine Rolle. Liam war sein Freund gewesen, und einem alten Freund tat man so etwas nicht an, mochten sie inzwischen auch auf gegensätzlichen Seiten stehen. Das war er Liam trotz allem schuldig.

Jackon stand auf und ging Richtung Tür.

»Wo willst du hin?«, fauchte sie.

»Ich gehe spazieren. Ich weiß noch nicht, wann ich zurückkomme.«

»Wie kannst du es wagen?«

»Es tut mir leid, dass Ihr wütend seid. Ich wollte Euch nicht verärgern, Herrin. Aber ich kann eben nicht anders.«

Es waren nur ein paar Schritte bis zur Tür, doch der Weg erschien ihm länger als jede andere Strecke, die er je zurückgelegt hatte. Lady Sarkas Blick schien seinen Hinterkopf zu durchbohren, und er musste sich auf jede Bewegung konzentrieren, damit er nicht ins Straucheln geriet. Als er den Türknopf drehte und die Tür öffnete, dachte er: Ich habe es geschafft. Sie hatte seine Entscheidung akzeptiert. Ihr blieb gar keine andere Wahl. Was hätte sie schon dagegen tun können?

In diesem Moment sagte sie: »Du bleibst hier.«

Mit der Hand auf dem Türknauf verharrte er. Dann drehte er sich um.

Reglos und statuengleich stand Lady Sarka da. Sie schrie nicht, sondern sprach leise, beinahe flüsternd, und ihre Stimme schnitt durch die Stille wie eine Klinge aus Eis. »Du wirst tun, was ich sage. Andernfalls schicke ich dich noch heute in die Kanäle zurück, in das stinkende Loch, aus dem du gekommen bist.«

Mehrere Sekunden verstrichen, bis Jackon seine Stimme wiederfand. »Das könnt Ihr nicht tun. Ihr... braucht mich.«

»Du irrst dich. Niemand braucht dich. Ein Wort von mir, und man jagt dich mit Stockhieben aus dem Palast. Ich habe dir ein neues Leben geschenkt, ich kann es dir auch wieder wegnehmen. Dieses Zimmer, die kostbaren Kleider, das Grammophon – nichts davon gehört dir. Wenn es mir gefällt, kriechst du schon morgen nackt und frierend durch die Grambeuge, bettelst um Essen und flehst die anderen Schlammtaucher, Huren und Krüppel an, dich nicht zu schlagen und anzuspucken. Ohne mich bist du ein Nichts. Ein Niemand. Man wird dich verachten, wie man es immer getan hat, und dann wird man dich vergessen.«

»Ich bin immer noch ein Traumwanderer.«

»Ja«, höhnte sie. »Ein Traumwanderer ohne Freunde, ohne Macht, der im nächsten Winter an der Cholera krepieren wird, wenn ihn nicht vorher die Ghule holen. Wer wird dann für dich da sein? Dein treuer Freund Liam?«

Das Ziehen in seinem Kopf kehrte zurück, wurde schlimmer und schlimmer. »Nein«, brachte er hervor.

»Es liegt in deiner Hand, was geschehen wird. In deiner Hand.«

Bilder flackerten in Jackons Erinnerung auf, von einsamen Nächten in Kälte und Dunkelheit, von nagendem Hunger, verpesteter Luft und ständiger Furcht. Nie wieder wollte er in die Kanäle zurück und ein Ausgestoßener sein, von allen gehasst und verachtet. Nie wieder. Lieber wollte er sterben.