Aber was war der Preis dafür?
»Also, Jackon, wie lautet deine Entscheidung?«
»Ich... ich weiß nicht«, sagte er mit brechender Stimme.
»Es ist doch ganz einfach. Respekt, Wohlstand und Freundschaft oder ein erbärmliches Leben in elender Armut. Du hast die Wahl.«
»Schickt mich nicht in die Kanäle zurück. Bitte.«
»Du willst mir also gehorchen?«
Alles um ihn herum schien zu schwanken. »Ich kann nicht. Ich kann Liam nicht verraten.«
»Wie du willst. Cedric? Zieh Jackon die Kleider aus und führ ihn hinaus. Er hat entschieden, uns zu verlassen.«
Der Diener war wie aus dem Nichts im Salon aufgetaucht. Er packte Jackon am Arm und führte ihn ins Zimmer. »Das Wams und die Hose bitte«, sagte er.
Jackon öffnete den obersten Knopf, dann ließ er die Arme sinken. Sein Blick glitt über die Kleidertruhen, das Bett, das Teegeschirr. Seine alte Behausung erschien vor seinem inneren Auge, ein dreckiges, kaltes Loch, in dem es so sehr stank, dass man kaum atmen konnte – und ihm war, als würden ihn all seine Kräfte verlassen.
»Hilf ihm, Cedric«, befahl Lady Sarka.
Der Diener machte sich an seinen Knöpfen zu schaffen. Jackon trat einen Schritt zurück. »Wartet.«
Die Lady blickte ihn erwartungsvoll an. »Ja?«
Er schloss die Augen, kämpfte gegen die Übelkeit an, die in ihm aufwallte. Er konnte Liam nicht retten. Wenn er sich weigerte, Lady Sarka zu helfen, verschaffte er ihm höchstens ein paar Tage Aufschub. Früher oder später würde sie ihn finden, auch ohne ihn. Alles, was er tat, war sinnlos.
Sinnlos...
»Ich mache es«, flüsterte er.
»Du hilfst mir, Liam zu finden?«
»Ja.«
Ein Lächeln umspielte Lady Sarkas Lippen. »Na also. Ich wusste doch, dass du vernünftig sein würdest. Du bist ein kluger Junge, Jackon. Ein kluger Junge.«
40
Verrat
Wind zerzauste Jackons Haar und zerrte an seiner Kleidung, als er sein Seelenhaus verließ und hinaus auf die Gasse trat.
Er empfand weder Furcht noch Traurigkeit, nicht einmal Scham. All seine Gefühle schienen erloschen zu sein, verschwunden, abgestorben, beinahe wie an den Tagen nach dem Ghulangriff, als ihn seine Verletzung ans Bett gefesselt und sich das Morphium wie Nebel über seine Empfindungen gelegt hatte. Mit dem Unterschied, dass er diesen Zustand diesmal nicht unangenehm fand. Er wollte gar nichts fühlen. Gefühle waren etwas für Schwächlinge. Er aber war ein Traumwanderer, ein respektierter und gefürchteter Diener von Lady Sarka, und er hatte einen Auftrag, der einen klaren Kopf erforderte.
Du bist selbst schuld, Liam. Wenn du auf mich gehört hättest, müsste ich das nicht tun.
Bei diesem Gedanken regte sich irgendwo in seinem Innern leiser Zorn. Zorn auf Liam und dessen Dummheit. Er konnte nichts dafür, dass es so weit gekommen war. Er hatte alles getan, um die Katastrophe abzuwenden, hatte sich sogar in Gefahr gebracht. Liam jedoch schlug seine Hilfe aus, schlimmer noch, er hatte versucht, ihn in seine Machenschaften zu verwickeln. Unter diesen Umständen konnte man ihm keinen Vorwurf machen, dass er so handelte, wie er es gerade tat. Im Gegenteil, es war geradezu seine Pflicht.
Selbst schuld.
Je länger Jackon darüber nachdachte, desto größer wurde seine Wut. Er beschloss, sie zu nähren, sie am Leben zu erhalten. Zorn war gut. Zorn half ihm, die Dinge richtig einzuschätzen, er war das beste Mittel gegen seine törichte Gefühlsduselei, die ihn um ein Haar in große Schwierigkeiten gebracht hätte.
Er hatte hart dafür gearbeitet, ein Traumwanderer in den Diensten von Lady Sarka zu werden, er hatte Entbehrungen und Gefahren auf sich genommen und sich Respekt und Ansehen erkämpft. Er würde nicht zulassen, dass man ihm all das wieder wegnahm.
Niemals.
Mit einem harten Zug um den Mund machte er sich bereit für den Sprung – und hielt inne. Die Worte von Lady Sarka kamen ihm in den Sinn: Nimm dich vor dem Alb in Acht. Er beschloss, nicht direkt zu Liams Seelenhaus zu springen, sondern sich zuerst einen Überblick über die Lage zu verschaffen.
Zweihundert Schritt von der Sternwarte entfernt landete er, verbarg sich hinter einem Mauervorsprung und spähte vorsichtig in die Gasse.
Wie gut, dass er sich an die Warnung erinnert hatte. Lucien saß auf einem Dach gegenüber der Sternwarte, ein dunkler Umriss vor dem ewigen Nachthimmel. Der Alb lehnte am Kamin, hatte ein Bein an die Brust gezogen, das andere entspannt ausgestreckt und rauchte Pfeife. Von dort oben hatte er einen ausgezeichneten Blick auf Liams Tür. Es war nicht möglich, in das Seelenhaus hineinzukommen, ohne dass er es bemerkte. Jackon musste ihn irgendwie weglocken oder wenigstens lange genug ablenken, dass er ungesehen zur Tür kam. Nur wie? Lucien besaß scharfe Augen und Ohren und war überaus wachsam. Jackon musste es so anstellen, dass der Alb keinen Verdacht schöpfte.
Er zog den Kopf ein und dachte konzentriert nach. Vielleicht konnte er Lucien überlisten, indem er von hier, wo er stand, in die Sternwarte sprang. Aber so etwas hatte er noch nie versucht. Er wusste nicht einmal, ob es überhaupt möglich war.
Plötzlich kam ein Bote angeflogen. Das Geschöpf schwirrte mit summenden Flügeln um ihn herum und streckte neugierig den Rüssel nach ihm aus. Verärgert über die Störung jagte er es weg. Der Bote schoss nach oben und ließ sich auf der Dachkante nieder. »Mach deine Arbeit, und hör auf, mich so anzuglotzen«, murmelte Jackon, doch das Wesen dachte gar nicht daran, weiterzufliegen.
Das brachte ihn auf eine Idee. Er nutzte die restliche Traumsubstanz, die er in sich trug, um ein gutes Dutzend kleiner Träume zu erschaffen, denen er das Aussehen geflügelter Boten gab. Kurz darauf saß ein ganzer Schwarm der moskitoartigen Wesen vor ihm. Jackon war zufrieden mit dem Ergebnis – nichts unterschied die Träume von echten Boten. Kraft seines Willens ließ er sie aufsteigen und über die Dächer fliegen.
In der ganzen Stadt wimmelte es von Boten, die sich merkwürdig benahmen, seit die Alben fort waren. Auch Lucien musste das inzwischen aufgefallen sein. Mit etwas Glück schob er das Verhalten des Schwarms, der sich ihm näherte, auf das Durcheinander im Traumland und dachte sich nichts dabei.
Jackon befahl seinen Träumen, anzugreifen. Die Wesen stürzten sich auf Lucien, der erschrocken aufsprang und um sich schlug, bevor er in einer summenden Wolke aus Flügeln und Insektenleibern verschwand. Im gleichen Moment sprang Jackon zur Sternwarte, öffnete die Tür und schlüpfte hinein. Träume umfingen ihn. Er bahnte sich einen Weg durch die wispernden Bilder und spähte aus dem Fenster.
Seine Boten konnten Lucien nichts anhaben, aber es lag auch gar nicht in seiner Absicht, dem Alb zu schaden. Jackon gab ihnen den Befehl, sich zurückzuziehen. Lucien blickte ihnen wütend nach, strich sein Wams glatt und hob seine Pfeife auf.
Jackon atmete auf. Das Ablenkungsmanöver war geglückt.
Dann jedoch kletterte der Alb vom Dach und kam auf die Sternwarte zu. Jackon begriff, dass er das Ausmaß von Luciens Vorsicht unterschätzt hatte. Hastig versteckte er sich hinter einer Ecke, wo das Gewebe von Liams Träumen besonders dicht war.
Mit gerunzelter Stirn blickte Lucien durch ein Fenster herein. Jackon machte sich bereit, notfalls mit einem Sprung zu fliehen, falls der Alb auf die Idee kam, das Seelenhaus zu durchsuchen. Doch Lucien gelangte offenbar zu der Überzeugung, alles sei in Ordnung, und kehrte zu seinem Beobachtungsposten zurück.