Jackon rührte sich nicht von der Stelle. Erst als der Alb wieder auf dem Dach saß und seine Pfeife anzündete, wagte er sich aus seinem Versteck hervor und machte sich auf die Suche nach Liam.
Der Blonde hatte wieder einen Albtraum. Er rannte einen endlosen Korridor entlang und folgte einer Gestalt, die sich immer weiter von ihm entfernte. »Vater!«, rief er. »Vater, so warte doch!«
Jackon blieb außerhalb des Korridors stehen, damit Liam ihn nicht sehen konnte. Für ihn hingegen waren die Wände halb durchsichtig, sodass er das Geschehen mühelos verfolgen konnte.
Sollte er Liam ansprechen und ihn einfach fragen, wo er sich in der Wachwelt versteckte? Nein – die Gefahr, dass Liam misstrauisch wurde oder vor Schreck aufwachte, war zu groß. Er musste sich etwas einfallen lassen.
Sein Blick wanderte zu Liams Vater. Fellyn Satander war ein mittelgroßer Mann mit kurzem blondem Haar, unrasierten Wangen und sanften Augen. Er sah gar nicht wie ein Aufrührer und Verräter aus. Mit ausdrucksloser Miene schritt er den Korridor entlang. Er ging viel langsamer als Liam, doch wie so oft in der Welt des Schlafs verhinderte eine rätselhafte Kraft, dass der Träumende das Ziel seiner Sehnsüchte erreichte, mochte er sich noch so sehr anstrengen.
Jackon kam eine Idee. Er konzentrierte sich auf Liams Vater und zwang der Traumgestalt seinen Willen auf. Es war nicht besonders schwer – fremde Träume zu verändern gehörte zu den Dingen, die er schon ganz am Anfang seiner Ausbildung gelernt hatte. Er befahl dem Traumabbild von Fellyn Satander, sich umzudrehen und stehen zu bleiben.
Liam holte ihn ein. »Warum läufst du denn vor mir davon?«
»Ich habe dich nicht erkannt«, ließ Jackon die Traumgestalt antworten und befahl ihr, zu lächeln. »Liam. Wie schön, dich zu sehen.«
Zögernd erwiderte der Blonde das Lächeln. »Was machst du hier? Ich habe gedacht, du bist tot.«
»Das war ein Irrtum. Ich bin am Leben. Sieh mich an. Alles in Ordnung, nicht wahr?«
Liam fiel seinem Vater in die Arme. »Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt?«, fragte er mit Tränen in den Augen.
»Ich habe dich gesucht, aber ich konnte dich nicht finden.«
»Ich musste mich verstecken. Die Sache mit dem Buch hat mich ganz schön in Schwierigkeiten gebracht, weißt du?«
Jackons schlechtes Gewissen regte sich, als er sah, wie glücklich Liam war. Mit aller Macht kämpfte er dagegen an. Er musste sich konzentrieren und durfte jetzt keinen Fehler machen, denn Liam war genau da, wo er ihn haben wollte. »Versteckt?«, ließ er Fellyn Satander erwidern. »Wo denn?«
»Bei Godfrey, dem Aethermann. Er hat einen geheimen Schlupfwinkel unter dem Kessel. Quindal ist auch dort. Und Vivana. Und meine anderen Freunde.«
Jackon staunte nicht schlecht, als er das hörte. Godfrey war allen Bewohnern der Kanäle ein Begriff, und fast jeder hatte ihn schon einmal gesehen. Der Aethermann tauchte hin und wieder in den Unterkünften der Schlammtaucher auf und bezahlte gutes Geld für Gerüchte und Neuigkeiten aller Art. Trotzdem wusste kaum jemand etwas Genaues über ihn, und sein Versteck war vielleicht eines der am besten gehüteten Geheimnisse Bradosts. Lady Sarka hätte Liam und seine Gefährten nie gefunden.
»Ich will, dass wir wieder zusammen sind, Liam«, sagte Fellyn Satander. »So wie früher.«
»Ich auch.«
»Dann lass uns gehen. Zeig mir, wo du dich versteckst. Ich möchte deine Freunde kennen lernen.«
Liam war so glücklich, dass er gar nicht auf die Idee kam, er könnte einer Täuschung aufsitzen. Plötzlich verschwand der Korridor, und sein Vater und er gingen durch die Gassen des Kessels. Jackon folgte ihnen unbemerkt. Als er die verlassene Gießerei sah, wo er sich mit Liam getroffen hatte, wusste er, wo er sich befand. Von dort aus schlenderten sie zu einem alten Sammelbecken, stiegen in die Kanäle hinab und durchquerten das Gewirr aus Tunneln.
Jackon wusste, dass Liams Träume kein exaktes Abbild des Weges darstellten. Wie es in Träumen üblich war, vermischte sich die Realität mit älteren Erinnerungen, verschmolzen ähnlich aussehende Gänge zu einem oder überlagerten die verschiedenen Tunnel einander schattenhaft. Jackon jedoch brauchte die genaue Lage jeder einzelnen Gangbiegung und Abzweigung, zumal er sich in diesem Teil der Unterwelt nicht auskannte. Deswegen ließ er Fellyn Satander nach einer präzisen Beschreibung des Weges fragen, unter dem Vorwand, er müsse ihn kennen, falls er einmal allein unterwegs sei.
Liam dachte sich nichts dabei und beschrieb ihm, wie er zu Godfreys Versteck kam. Sorgfältig zählte er auf, wie viel Schritt man in diese oder jene Richtung gehen und wann man sich nach links und wann nach rechts wenden müsse. Jackon prägte sich alles genau ein.
Irgendwann kamen sie zu einem imposanten Tor, das aus der Dunkelheit vor ihnen auftauchte. Als es sich öffnete, erblickte Jackon eine riesige Halle voller Maschinen und Apparate.
Liam und sein Vater traten ein. Jackon folgte ihnen nicht; er hatte genug gesehen. Er gab das Traumabbild von Fellyn Satander frei und wachte auf.
Es war früh am Morgen, als er sich in seinem Bett wiederfand. Er zog sich an und ging zu den Gemächern von Lady Sarka.
Sie lag auf ihrer Liege wie eine Eiskönigin im Zauberschlaf, die blassen Hände auf dem Bauch gefaltet, vollständig angekleidet und so makellos schön, als befände sie sich auf einem Ball. Als Jackon noch überlegte, ob er es wagen durfte, sie zu wecken, öffnete sie die Augen und stand auf, von einem Moment auf den nächsten hellwach.
»Hast du getan, was ich dir befohlen habe?«, fragte sie.
»Ich weiß jetzt, wo sich Liam und seine Freunde verstecken. Der Aethermann Godfrey hat ihnen geholfen. Sie sind in seinem Unterschlupf, in den Katakomben unter dem Kessel.«
Ein lauernder Ausdruck trat in ihre Kristallaugen. »Wie finden wir sie?«
Jackon schluckte. Wenn er antwortete, gab es kein Zurück mehr.
»Wie, Jackon?«, fragte Lady Sarka mit einem schneidenden Klang in der Stimme.
Sie haben es nicht anders verdient, dachte er – und begann, ihr in stockenden Worten den Weg zu Godfreys Versteck zu beschreiben.
Als er fertig war, wurden ihm die Knie weich.
Er hatte es getan. Er hatte Liam verraten.
Nein, dachte er. Ich habe das Richtige getan. Das Richtige.
»Gut gemacht«, sagte die Lady und lächelte warm. »Das werde ich dir nie vergessen.«
Nervös leckte er sich über die Lippen. »Was wird jetzt geschehen?«
»Das weißt du doch«, antwortete sie sanft.
»Ich möchte Euch um etwas bitten. Es geht doch nur um das Buch. Wenn Liam und seine Freunde es nicht mehr haben, können sie Euch nicht mehr schaden. Lasst sie gehen, wenn Ihr das Buch gefunden habt. Bitte.«
»Sie sind Verräter, Jackon. Sie müssen bestraft werden.«
Er dachte an die Hinrichtungen auf dem Tessarionplatz. »So wie die Attentäter?«
»So wie die Attentäter.«
»Genügt es nicht, sie ins Gefängnis zu werfen? Ich meine, eigentlich haben sie doch gar nichts getan, außer das Buch zu stehlen.«
Lady Sarka schwieg. »Na gut. Ihr Leben soll verschont werden.« Dann lächelte sie wieder. »Jetzt geh, und ruh dich aus. Du hast genug getan.«
Plötzlich fühlte sich Jackon so erschöpft, dass er sich am liebsten hingelegt hätte. Müde schlurfte er zu seinem Zimmer zurück und versuchte dabei, an nichts zu denken. Was ihm auch gelungen wäre, wenn er nicht immerzu Liam vor sich gesehen hätte, der lachend seinen Vater umarmte und zum ersten Mal seit langer Zeit wieder glücklich war.
Umbras Blick glitt über die Reihen der schwarz gewandeten Gestalten. Fünfundzwanzig Spiegelmänner hatten in der Kaserne Aufstellung bezogen, fast die gesamte Wachmannschaft des Palastes. Ihre Masken reflektierten das blaue Glühen der Glashöhlen.