»Wir greifen in zwei Gruppen an«, sagte Corvas. »Ich führe die erste Gruppe, Amander und du die zweite. Ich habe Karten von den Tunneln unter dem Kessel besorgt. Der alte Sammler, in dem Godfrey sich versteckt, hat zwei Zugänge. Eure Aufgabe ist es, den nordwestlichen abzuriegeln, während ich im Süden angreife.«
»Hast du die Karten da?«, fragte Umbra.
Corvas zog zwei gefaltete und vergilbte Pläne aus einer Manteltasche, breitete sie auf dem Boden aus und erläuterte die exakte Lage von Godfreys Schlupfwinkel. Umbra prägte sich alles genau ein. Nach dem Fiasko im Labyrinth hatte Lady Sarka ihnen unmissverständlich klargemacht, dass sie einen weiteren Misserfolg nicht dulden würde.
»Schaut mal, wer da ist«, murmelte Amander.
Umbra wandte sich um und sah eine Gestalt im Tunnel stehen.
»Guten Morgen«, sagte Silas Torne. »Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.«
»Was hat der Kerl hier zu suchen?«, fragte Amander. »Hast du ihn nicht hinausgeworfen?«
»Ja, ich dachte, das hätte ich«, erwiderte Umbra mit finsterer Miene. Sie schritt dem Alchymisten entgegen. Der Gestank von Chemikalien stieg ihr in die Nase. »Hast du vergessen, dass ich dir den Hals brechen wollte, wenn du dich noch einmal blicken lässt?«, fuhr sie ihn an.
Tornes Auge funkelte. »Hast du wirklich gedacht, deine lächerliche Drohung beeindruckt mich?«
»Wie bist du hereingekommen?«
Er ging nicht darauf ein. Der Alchymist spähte an ihr vorbei zu den Spiegelmännern. »Ein imposanter Truppenaufmarsch, so früh am Morgen. Ich nehme an, ihr macht das nicht zum Vergnügen. Lass mich raten: Ihr habt Lucien und die anderen Verräter endlich gefunden. Offenbar bin ich gerade rechtzeitig gekommen, nicht wahr?«
Blitzschnell ließ Umbra ihren Schatten wachsen. Torne ächzte, als ihn halb materielle Arme umschlangen und hochhoben, sodass er fast mit dem Kopf gegen die Höhlendecke stieß.
»Du hast es nicht anders gewollt«, knurrte Umbra.
Torne lächelte dünn. Erst jetzt bemerkte sie, dass er mit seinen Krallenfingern eine Phiole umklammerte. Hinter dem Rauchglas brodelte es wolkig-grün.
»Was ist das?« »Gift. Ein superstarkes Toxin, das aus den Nesselkapseln von Tiefseequallen gewonnen wird. An der Luft wird es augenblicklich zu Gas, das binnen Sekunden jegliches organisches Gewebe zerstört. Ich schlage vor, du lässt mich runter. Aber behutsam, wenn ich bitten darf. Sonst könnte es sein, dass ich das Fläschchen versehentlich fallen lasse, und das würde jedem in diesen Höhlen äußert schlecht bekommen.«
Aus den Augenwinkeln sah Umbra, dass Corvas und Amander neben sie traten, in den Händen ihre Pistolen. »Worauf wartet ihr? Knallt ihn ab!«, zischte sie.
»Und die Phiole?« Anspannung lag in Amanders Stimme.
»Fange ich auf.«
»Zu riskant«, sagte Corvas. »Lass ihn runter. Er soll bekommen, wonach es ihn verlangt.«
»Das ist nicht dein Ernst!« »Er macht uns andernfalls nur Ärger. Außerdem spielt es keine Rolle. Lucien ist nicht wichtig.«
»Meine Hand wird langsam schwach«, bemerkte Torne. »Ich kann die Phiole nicht mehr lange halten.«
Umbra murmelte einen Fluch und setzte ihn vorsichtig auf dem Boden ab. Der Alchymist strich seine Robe glatt und ließ das Fläschchen in einer Falte verschwinden. Verschlagen musterte er Umbra und ihre beiden Gefährten. »Habe ich das richtig verstanden? Ihr wollt Lucien mir überlassen?«
»Korrekt«, sagte Corvas. »Du wartest hier. Wir bringen dir den Alb.«
»Nein. Ich komme mit euch. Ich traue euch nicht. Ich will mit eigenen Augen sehen, dass ihr keine faulen Tricks probiert.«
Der Bleiche nickte kaum merklich. »Du wirst tun, was wir sagen, und dich zurückhalten, bis unsere Arbeit beendet ist. Hast du verstanden?«
»Natürlich.« Tornes Mundwinkel zuckten. »Das ist die Abmachung, und ich werde mich daran halten. Ich bin schließlich ein Ehrenmann, der Verträge respektiert. Es käme mir nie in den Sinn, einem Geschäftspartner zu schaden.«
41
Die Bleichen Männer
Liam erwachte mit tränenfeuchtem Gesicht. Er starrte in die Dunkelheit und versuchte, sich zu erinnern, wovon er geträumt hatte. Irgendetwas war geschehen, etwas sehr Wichtiges, doch es fiel ihm einfach nicht mehr ein. Ein freudiges Wiedersehen, eine Wanderung in der Dunkelheit, das war alles, woran er sich entsinnen konnte. Zurück blieben ein Gefühl von Verlust und die Gewissheit, dass etwas nie mehr so sein würde, wie es einmal gewesen war.
Er zündete die Gaslampe neben seinem Bett an und setzte sich auf. Seine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Nachdem er einen Schluck Wasser getrunken hatte, ging es ihm etwas besser.
Plötzlich erschien Lucien aus dem Nichts. Liam ließ beinahe den Krug fallen.
»Musst du mich so erschrecken!«
»Entschuldige. Es geht leider nicht anders.«
»Kommst du gerade aus dem Traumland?«
Lucien nickte. »Ich habe gesehen, dass du aufgewacht bist.«
»Du siehst erschöpft aus.«
»Der Übergang macht mir zu schaffen. Es fällt mir nicht mehr so leicht wie früher, von einer Welt zur anderen zu reisen. Ich bin wohl aus der Übung.«
Liam wusch sich und zog sich an. »Ist Jackon aufgetaucht?«
»Ich habe ihn nicht gesehen.«
»Wusste ich’s doch. Er macht so etwas nicht. Vivanas Vater sieht wieder alles viel zu schwarz.«
»Mag sein«, sagte der Alb unbestimmt. »Gehen wir zu den anderen. Sie sitzen bestimmt schon beim Frühstück.«
Die Gefährten hatten sich am Tisch versammelt und aßen Hafergrütze, während Nedjo eine Geschichte zum Besten gab. Offenbar hatte sich die allgemeine Stimmung ein wenig gebessert. Alle waren da, außer Vivana. Von Quindal erfuhr Liam, dass sie in der Küche sei.
Sie nahm Fleischstücke aus einem Fass mit Eis und stopfte sie in einen Sack. Liam blieb im Durchgang stehen und versuchte wieder einmal, seiner widersprüchlichen Gefühle Herr zu werden, während er ihr zusah. Seit dem Vorfall in der vorletzten Nacht verhielt sich Vivana ihm gegenüber äußerst vorsichtig. Zwar versicherte sie immer wieder, sie verstehe ihn, aber er hatte genau gespürt, wie sehr die Zurückweisung sie verletzt hatte. Er hasste sich deswegen, auch wenn er hundertmal nichts dafür konnte.
Sie bemerkte ihn und lächelte ihn an. »Guten Morgen. Hat Lucien gut auf dich aufgepasst?«
»Kommst du nicht zum Frühstück?«
»Ich habe schon gegessen.«
»Was hast du mit dem Fleisch vor?«
»Ich mache mir Sorgen wegen Ruac. Er ist jetzt schon viel zu lang allein. Es wird Zeit, dass ich ihm neues Futter bringe. Godfrey erlaubt mir ja nicht, ihn herzuholen«, fügte sie mit einer Zornesfalte zwischen den Augenbrauen hinzu.
»Warte, ich mach das. Halte du den Sack auf.«
»Kommst du mit?«
»Jetzt gleich?«
Sie nickte.
»Ich bleibe lieber hier, wenn es dir nichts ausmacht«, sagte er. »Ich möchte ein paar Sachen mit Lucien besprechen.«
Sie wirkte ein wenig enttäuscht. »Na ja, macht nichts. Vielleicht will Nedjo ja mitkommen.«
Liam hätte sich am liebsten geohrfeigt. Zu allem Überfluss machte er auch noch solche dummen Fehler. »Ach, eigentlich kann Lucien warten...«
Sie blickte ihn mit gespielter Strenge an. »Jetzt rede schon mit ihm. Das ist wirklich wichtiger. Ich bin ja bald wieder da.«
Sie stopfte den Sack in ihren Tragekorb und schulterte ihn. Draußen bat sie Nedjo, sie zu begleiten. Godfrey gab ihnen eine Karte der Tunnel, auf der er den Weg zur Alten Arena einzeichnete, deren Gewölbe mit den Katakomben verbunden waren.
»Grüß Ruac von mir«, sagte Liam, bevor sich Vivana mit einem Kuss auf die Wange von ihm verabschiedete. Er begleitete sie und Nedjo zum Tor und blickte ihnen nach, bis der Schein ihrer Laterne hinter einer Wegbiegung verschwand. In diesem Moment wünschte er sich sehnlichst, er könnte ein normales Leben führen, ohne Sorgen, ohne Angst vor den tausend Gefahren, die ihnen drohten, damit Vivana und er endlich richtig zueinanderfinden konnten, wie ein ganz normales Paar. Es gab so vieles, das er ihr sagen, das er von ihr erfahren wollte, doch hier, in Godfreys Versteck, zusammengepfercht mit ihren Gefährten und in ständiger Furcht vor Entdeckung, gab es keine Möglichkeit, länger als ein paar Minuten allein zu sein. Und selbst wenn es sie gegeben hätte, war da immer noch diese Abscheu vor seinem eigenen Körper, dieser Selbstekel, der ihm das Leben zur Qual machte wie ein tückischer Fluch. Zwar ging es ihm von Tag zu Tag besser, aber er wusste, dass er noch lange nicht damit fertig war. Und Vivana würde gewiss nicht ewig mit ihm Geduld haben.