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Godfrey schloss das Tor. Liam seufzte und ging zurück zu den anderen.

Nach dem Frühstück blieben er, Lucien, Quindal und Livia sitzen und besprachen noch einmal ihre Möglichkeiten – die, wie alle wussten, sehr begrenzt waren. Als sich schon wieder Hoffnungslosigkeit breitzumachen drohte, sprach Liam etwas an, das im Durcheinander der letzten Tage untergegangen war.

»Als wir bei Bajo waren«, wandte er sich an Lucien, »da hast du gesagt, du wolltest noch einmal über den Phönix und den Bindezauber aus dem Gelben Buch nachdenken.«

Der Alb nickte.

»Hast du schon eine Idee, was wir deswegen machen könnten?«

»Heute Abend wollte ich ein paar Informationen einholen. Morgen weiß ich vielleicht mehr.«

»Willst du uns nicht sagen, was du vorhast?«, fragte Livia.

Lucien antwortete zögernd. »Ich hoffe, dass uns die Bleichen Männer helfen können.«

»Die Bleichen Männer?« Liam hätte beinahe gelacht. »Die aus dem Schauermärchen?«

»Genau die«, erwiderte der Alb ruhig.

»Das ist kein Märchen, Liam«, sagte Livia. »Es gab sie wirklich. Und einiges spricht dafür, dass sie immer noch da sind, irgendwo in der Stadt.«

Ihr Ton machte deutlich, dass sie es ernst meinte. Liam schluckte. »Und du willst zu ihnen gehen? Weswegen?«

»Zuerst einmal muss ich herausfinden, wo sie sind«, antwortete Lucien. »Und dann – mal sehen. Es gibt da ein paar Dinge, die ich klären muss.« Er hüllte sich in Schweigen.

Liam konnte sich gut an das Märchen von den Bleichen Männern erinnern, obwohl es viele Jahre her war, dass sein Vater es ihm erzählt hatte. Ein alter Kinderreim fiel ihm ein:

Grüne Spiegel, tote Augen

Lass dir nicht die Seel’ aussaugen

Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Er hatte diese Geschichte noch nie gemocht.

Der Lampenschein schälte feuchtes Mauerwerk aus der Finsternis und glitzerte auf dem Wasser des Kanals, das dunkel und lautlos neben ihnen dahinströmte. Vivana ging mit der Laterne voraus, Nedjo folgte ihr dichtauf und trug den Korb mit dem Fleisch. Der Manusch sprach kaum ein Wort, denn wie die meisten von ihnen hatte er schlecht geschlafen. Vivana machte das nichts aus; es genügte ihr, dass er da war und sie nicht allein durch diese Tunnel wandern musste.

Außerdem konnte sie so in Ruhe über Liam nachdenken.

Sie wusste nicht, was sie von den vergangenen Tagen halten sollte. Es war schön, mit ihm zusammen zu sein, und sie genoss jede Minute, wenn sie redeten oder nur nebeneinandersaßen und gemeinsam ihre Gedanken treiben ließen. Aber dann gab es wieder Momente, in denen er sie unversehens zurückwies, weil er eine Berührung nicht ertrug, weil er allein sein musste. Sie verstand, warum er so reagierte, dennoch tat es ihr jedes Mal weh. Am schlimmsten war, dass sie ihm nicht helfen konnte. Er musste allein damit fertigwerden. Sie konnte nichts tun, als ihm zuzuhören oder ihn in den Arm zu nehmen, wenn er sie brauchte.

Wenn es ihnen wenigstens möglich gewesen wäre, ein paar Tage auszuruhen, ohne Angst haben zu müssen, dass man sie fand und ins Gefängnis warf. Seit Wochen stürzten sie von einer Gefahr in die nächste, flohen, kämpften, fürchteten um ihr Leben. Wie sollte es Liam unter diesen Umständen gelingen, je wieder zu sich zu finden?

Manchmal war sie kurz davor zu verzweifeln.

»Ich glaube, wir sind fast da«, sagte Nedjo und schreckte sie damit aus ihren düsteren Gedanken auf. Er studierte Godfreys Karte. »Rechts müsste gleich eine Treppe kommen.«

Vivana versuchte, nicht mehr über diese Dinge nachzudenken. Es führte ohnehin zu nichts. Besser, sie tat das, was ihr geholfen hatte, klaren Verstandes durch die letzten Wochen zu kommen: sich immer nur auf den nächsten Schritt zu konzentrieren und damit den Berg von Problemen und Gefahren, der vor ihr lag, in überschaubare Teile zu zerlegen.

Und jetzt hieß der nächste Schritt Ruac.

Seite an Seite stiegen sie die uralte Treppe hinauf und gelangten nach gut zwanzig Stufen in einen Kellerkomplex, der ihr bekannt vorkam: die Gewölbe der Arena. Ihr Herz klopfte aufgeregt. Sie konnte es kaum erwarten, Ruac wiederzusehen. Gleichzeitig hatte sie ein furchtbar schlechtes Gewissen. Sie hatte den Tatzelwurm aufgezogen, war für ihn verantwortlich – sie hätte ihn niemals so lange allein lassen dürfen. Hoffentlich hatte ihm das Futter gereicht, und es ging ihm gut.

Kurz darauf fand Vivana den Raum, in dem sie ihren geschuppten Gefährten zurückgelassen hatten.

»Ruac?«

Aus der Dunkelheit erklang ein Schaben. Sie machte einen Schritt nach vorne und hörte ein knirschendes Geräusch. Sie war auf ein trockenes Stück Schuppenhaut getreten, das auf dem Boden lag. Ein sehr großes Stück Schuppenhaut.

Vor ihr bewegte sich etwas. Glitzerte. Vivana hob die Lampe.

»Allmächtiger Tessarion«, flüsterte sie.

42

Der Überfall

Der Kinderreim und das Märchen von den Bleichen Männern riefen irgendetwas in Liam wach, rührten an einer vergessenen Erinnerung – und plötzlich verspürte er wieder dieselbe innere Anspannung wie nach dem Aufwachen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass etwas sehr Wichtiges passiert war – nur was? Er kaute auf der Lippe und dachte angestrengt nach. Sein Vater war es gewesen, der ihm das Märchen erzählt hatte, vor vielen Jahren an einem Herbstabend vor dem Kamin. Warum musste er immerzu an dieses Detail denken?

Sein Vater...

Natürlich – sein Traum! Jetzt fiel ihm alles wieder ein. Ihr Wiedersehen. Sein fassungsloses Glück. Ihre Wanderung durch die Kanäle, Seite an Seite, als wäre nie etwas geschehen.

Aber warum diese innere Unruhe? Seit dem Tod seines Vaters hatte er ständig solche Träume, und er hatte gelernt, sie als einen Teil seiner Trauer zu akzeptieren. Daran war nichts Ungewöhnliches und erst recht nichts, wovor er Angst haben musste.

Oder doch?

Etwas unterschied diesen Traum von anderen seiner Art, eine Kleinigkeit nur, die ihm jedoch immer merkwürdiger vorkam, je länger er darüber nachdachte. Sein Vater hatte darauf bestanden, dass er ihn zu Godfreys Versteck führte und ihm, wirklich seltsam, präzise den Weg dorthin beschrieb.

Das passte nicht zu so einem Traum. Ganz und gar nicht.

Konnte es sein, dass ...?

Plötzlich wurde ihm eiskalt.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Livia. »Du bist auf einmal so blass.«

»Ich glaube, heute Nacht war Jackon in meinem Traum«, sagte Liam mit belegter Stimme.

Alle am Tisch starrten ihn an.

»Wie kommst du auf einmal darauf?«, fragte Quindal.