»Mir ist wieder eingefallen, wovon ich geträumt habe. Da war mein Vater, er hat gelebt. Aber es war kein normaler Traum. Er hat mich nach dem Weg gefragt. Nach dem Weg hierher.«
»Das muss nichts bedeuten«, sagte Livia. »Träume handeln von den seltsamsten Dingen.«
»Aber verdächtig ist es schon«, erwiderte Quindal. »Wir machen uns Sorgen, Jackon könnte uns in den Träumen ausspionieren – und kaum legt Liam sich schlafen, träumt er so etwas.« Seine Miene verfinsterte sich. »Er war es, wenn ihr mich fragt. Der Junge hat sich in Liams Träume eingeschlichen.«
Liam konnte das nicht glauben. Er wollte es nicht glauben. »Aber du hast doch gesagt, Jackon sei die ganze Nacht nicht aufgetaucht«, wandte er sich an Lucien.
Der Alb wirkte plötzlich sehr beunruhigt. »Richtig. Aber es gab da einen Vorfall, den ich schon fast wieder vergessen hatte. Ich dachte, er hat nichts zu bedeuten, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.«
»Was für einen Vorfall?«, fragte Quindal.
»Ein Schwarm von Boten hat mich angegriffen. Das sind Wesen, die für frische Traumsubstanz in den Seelenhäusern sorgen. Seit mein Volk fort ist, spielen sie verrückt, deswegen habe ich mir nichts dabei gedacht, zumal der Angriff harmlos war. Aber er hat mich kurze Zeit abgelenkt. Vielleicht hat Jackon das ausgenutzt, um in Liams Seelenhaus einzudringen.«
»Dieser kleine Bastard!«, stieß Quindal hervor. »Ich habe genau gewusst, dass wir ihm nicht trauen können.«
»Warte, Nestor«, beschwichtigte Livia ihn. »Das sind doch alles nur vage Vermutungen. Dazu müsste Jackon die Boten irgendwie beeinflusst haben. Ist er dazu überhaupt in der Lage?«
»Vielleicht«, antwortete Lucien. »Ich weiß nicht genau, wie seine Kräfte beschaffen sind.«
Kaum hatte er den Satz beendet, begann eine Glocke zu läuten. Liam erschrak so heftig, dass er auffuhr. Das Läuten kam von der Plattform. Godfrey hastete die Eisenstufen hinauf, riss einen der Schläuche seiner Beobachtungsapparatur aus der Halterung und starrte in den Trichter.
»Spiegelmänner!«, rief er.
Liam war, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen. Nein, Jackon, dachte er nur. Nein. Bitte nicht.
Augenblicklich brach Chaos in der Halle aus. Quindal und Lucien waren aufgesprungen und redeten durcheinander. Livia eilte zu Madalin, der die Kinder zu sich rief. Jovan riss den Vorhang zur Seite und stürzte aus dem Durchgang zu den Schlafquartieren.
Godfrey trat an die Brüstung der Plattform. »Sie sind auf dem Weg hierher«, sagte er. »Wir müssen fliehen. Uns bleibt nicht viel Zeit. Nehmt nur mit, was ihr tragen könnt, und geht zu der Tür dahinten. Sie führt zu einem geheimen Fluchttunnel.«
In diesem Moment ertönte eine zweite Glocke. Godfrey spähte in einen anderen Trichter. Als er sich wieder umwandte, sah Liam zum ersten Mal so etwas wie Furcht im maskenhaften Gesicht des Aethermanns. »Sie... kommen auch durch den Fluchttunnel«, erklärte er stockend.
»Heißt das, wir sitzen in der Falle?«, rief Lucien zu ihm herauf.
Anstelle einer Antwort betätigte Godfrey hektisch Hebel und Schalter, als könne er nicht glauben, was seine Apparatur meldete.
Mechanisch stand Liam auf und griff nach der Tasche mit dem Gelben Buch, die über der Stuhllehne hing, obwohl er selbst nicht wusste, was er damit bezweckte. Das Buch war wichtig. Er durfte es nicht hier zurücklassen, egal, was geschah.
Jackon hat uns verraten. Er hat uns – verraten.
Das war so absurd, so lächerlich, dass er es einfach nicht glauben konnte.
Vivana kam ihm in den Sinn. Sie war nicht hier – das war gut. Jähe Erleichterung durchströmte ihn beim Gedanken, dass sie gerade bei Ruac war, in der Alten Arena, in Sicherheit, und nicht hier bei ihnen, wo es gleich von Spiegelmännern wimmeln würde.
Wie in Trance ging er zu seinen Gefährten, die sich am Fuß der Stahltreppe versammelten. Zwei der Kinder weinten, doch davon abgesehen war das Durcheinander dank Luciens Besonnenheit und der Unerschrockenheit der Manusch gespannter Ruhe gewichen.
»Wenn wir nicht fliehen können, müssen wir kämpfen«, sagte Madalin. »Genug Waffen für alle haben wir.«
»Wie viele sind es?«, wandte sich Lucien an Godfrey, der immer noch an seiner Apparatur saß.
»Ich sehe mindestens zwanzig. Außerdem sind Corvas, Umbra und Amander bei ihnen.«
»Zu viele«, stellte Quindal düster fest.
»Gewinnen können wir nicht«, stimmte ihm der Alb zu. »Aber vielleicht können wir sie in Kämpfe verwickeln und lange genug beschäftigen, dass ein paar von uns entkommen können.«
»So machen wir es«, entschied Madalin. »Jovan, du holst die Waffen. Livia, du versteckst dich mit den Kindern in den Schlafquartieren, bis wir euch holen kommen.«
»Warte«, sagte Livia, als Jovan davoneilen wollte. »Zuerst nehmt ihr alle einen Schluck hiervon.« Sie griff in eine Tasche ihres Umhangs und holte die Phiolen mit dem javva hervor.
»Das bringt nichts«, meinte Sandor. »Godfrey hat doch gesagt, dass auch Corvas und seine Leute dabei sind.«
Unbeirrt löste die Manusch die Lederschnur, die die Fläschchen zusammenhielt. »Hauptsache, die Spiegelmänner können euch nicht sehen. Außerdem schützt es euch vor Verletzungen. Jetzt trinkt schon«, drängte sie und verteilte die Phiolen.
Liam hatte nicht vergessen, wie kostbar javva war. Livia besaß so wenig davon, dass sie es nicht einmal im Pandæmonium herausgegeben hatte, wo die Manusch mehr als einmal in großer Gefahr gewesen waren. Dass sie ihre restlichen Vorräte jetzt so freigiebig verteilte, machte ihm bewusst, wie aussichtslos ihre Lage war.
Er setzte die Phiole, die die Wahrsagerin ihm gab, an die Lippen, trank einen Schluck und gab sie an Quindal weiter. Es dauerte nicht lange, bis die Substanz ihre Wirkung entfaltete: Ein heißkalter Schauer durchlief ihn und machte ihn für ein paar Sekunden benommen. Anschließend legte sich sein Entsetzen etwas. Zu wissen, dass ihn die Spiegelmänner von nun an nicht mehr sehen konnten und er für mehrere Stunden unempfindlich gegen jede Art von Verletzung sein würde, ließ neue Zuversicht in ihm aufsteigen. Vielleicht gelang es ihnen doch, mit heiler Haut davonzukommen.
Es gab nicht genug javva für alle – Livia und Godfrey gingen leer aus. Nachdem die Wahrsagerin den letzten Rest unter ihren Kindern aufgeteilt hatte, führte sie die drei zu den Schlafquartieren. Wieder einmal bewunderte Liam sie und die anderen Manusch für ihren Mut. Obwohl sie allen Grund hatten zu verzweifeln, bewahrten sie einen kühlen Kopf.
Jovan kam mit den Waffen zurück und verteilte sie. Liam wollte gerade nach einer doppelläufigen Pistole greifen, als ihm wieder einfiel, was beim letzten Mal geschehen war, als er eine Schusswaffe abgefeuert hatte: Seth hatte ihn voller Zorn ins Pandæmonium geschleudert. Er überließ das Schießeisen Madalin und nahm stattdessen ein Messer.
Auch Godfrey bewaffnete sich. Er wuchtete ein Gerät mit spiralförmiger Spitze auf das Geländer der Plattform – ein Blitzwerfer, wie Liams Vater einen besessen hatte – und hielt es mit einer Hand fest, während er weiter in den Trichter starrte.
»Sie sind da!«, rief er.
Alle Augen wandten sich dem Tor zu.
Zwei dröhnende Schläge erklangen. Liam und seine Gefährten verteilten sich in der Halle, gingen einzeln oder paarweise hinter Maschinen in Deckung. Liam verbarg sich hinter einem Pfeiler, umklammerte den Knauf seines Messers und versuchte, nicht in Panik zu geraten. Denk daran, dir kann nichts passieren. Du hast schon ganz andere Sachen überstanden.
Außerdem musste es den Spiegelmännern erst einmal gelingen, das Tor aufzubrechen. Es war so stabil, dass es selbst einem Rammbock stundenlang widerstehen konnte.