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Noch hatte er die Chance zu fliehen. Das war vielleicht nicht ehrenvoll, dafür eröffnete es ihm die Möglichkeit, seinen Gefährten später zu helfen.

Es war keine schwierige Entscheidung. Was nützte es Liam und den anderen, wenn er mit ihnen in einer Zelle vermoderte? Er schob sein letztes Wurfmesser in die Lederhülle am Gürtel, verabschiedete sich stumm von seinen Freunden und huschte im Schutz der Maschinen zum Tor. Dabei kam ihm zugute, dass Corvas und Umbra damit beschäftigt waren, ihre Gefangenen zusammenzutreiben, und Amander auf die Kinder aufpasste. Niemand achtete darauf, was im vorderen Teil der Halle geschah, sodass er ungesehen zum Tor kam.

Dort standen immer noch zwei Spiegelmänner Wache und sicherten den Tunnel. Für einen kurzen Moment zog er in Erwägung, einfach in die Traumlanden zu springen. Das wäre der ungefährlichste Fluchtweg – aber auch der anstrengendste. Mit gerunzelter Stirn dachte er daran, wie viel Kraft ihn die Reise zu Liams Seelenhaus gekostet hatte. Nein, seine Kraft brauchte er noch. Besser, er empfahl sich auf Diebesart.

Lautlos schlich er an den Spiegelmännern vorbei, verschmolz kurz darauf mit der Dunkelheit und eilte den Gang entlang.

Er legte sich verschiedene Pläne zurecht. Am besten ging er zuerst zu einem seiner Verstecke und holte sich neue Ausrüstung. Anschließend würde er versuchen, Godfrey zu finden. Gemeinsam konnten sie vielleicht die anderen befreien.

Plötzlich fiel ihm Vivana ein. Nein, Godfrey musste warten. Zuerst musste er das Mädchen warnen und sie und Nedjo an einen sicheren Ort bringen. Vor allem aber musste er verhindern, dass die beiden hierher zurückkehrten und den Spiegelmännern geradewegs in die Arme liefen.

Also zur Alten Arena, dachte er.

Lucien blieb abrupt stehen, als etwas in den Tunnel flog und vor seinen Füßen zerplatzte. Ein scharfer Geruch stieg ihm in die Nase.

Gas.

Er wich zurück, doch die Dämpfe begannen bereits, ihre Wirkung zu entfalten. Seine Glieder wurden steif, und er konnte förmlich spüren, wie die Substanz gegen das javva in seinem Blut ankämpfte.

Das javva verlor den Kampf. Luciens Beine gaben nach, und er fiel hin. Binnen weniger Sekunden konnte er sich nicht mehr bewegen und nur noch stockend atmen.

Aus der Finsternis erklang eine Stimme, die er nur zu gut kannte.

»Sieh an, sieh an«, sagte Silas Torne. »Da bist du ja endlich. Süßer, kleiner, kostbarer Alb. Jetzt gehörst du mir.«

43

Livias Bitte

Vivana stand reglos da, die Laterne in der Hand, und brachte keinen Ton heraus. Sie hatte gewusst, dass es eines Tages so kommen würde, aber es mit eigenen Augen zu sehen, war... bestürzend.

Ruac war groß. So groß, dass sein schwarz geschuppter Leib die halbe Kammer ausfüllte. Vermutlich wog er so viel wie ein Pferd und maß von der Schnauze bis zur Schwanzspitze gut vier Schritt, obwohl das schwer abzuschätzen war, weil er sich wie eine Schlange zusammengerollt hatte. Mit seinen Tatzen konnte er mühelos einen Mann der Länge nach aufschlitzen, und die Zähne, die er beim Gähnen entblößte, glichen kleinen Dolchen.

Am erstaunlichsten aber waren die Flügel.

Das Bad in dem höllischen Pfuhl und in Nachachs Schwefelbecken hatte offenbar nicht nur sein Wachstum beschleunigt, sondern seine gesamte Entwicklung. An seinen Flanken hatten sich ledrige Schwingen herausgebildet, die vermutlich bei der letzten Häutung zum Vorschein gekommen waren. Elegant und stromlinienförmig schmiegten sie sich an seinen Körper.

Vivana schätzte, dass sie eine Spannweite von mehr als sechs Schritt besaßen. Ob er schon damit fliegen konnte?

»Er ist ein Lindwurm«, sagte Nedjo tonlos. »Ein waschechter Lindwurm.«

Ruac begann sich zu regen. Geschmeidig entrollte er seinen Leib, und mit einem schmirgelnden Laut kroch er über den Steinboden. Sein massiger Schädel mit den glühend gelben Augen bewegte sich auf Vivana zu, woraufhin sie unwillkürlich zurückwich. Doch er öffnete das Maul nur, um sie mit seiner gespaltenen Zunge an der Nasenspitze zu kitzeln. Da wusste sie, dass er noch ganz der Alte war. Abgesehen von der Größe und den Flügeln, natürlich.

Nedjo stand stocksteif da, als Ruac am Tragekorb schnüffelte.

»Natürlich, du hast Hunger«, sagte Vivana. »Warte, wir haben dir etwas mitgebracht. Na los, gib ihm schon das Fleisch«, forderte sie Nedjo auf.

Umständlich stellte der Manusch den Korb ab und holte den Sack heraus, kam jedoch nicht dazu, ihn zu öffnen. Ruac drängte ihn zur Seite, biss den Sack auf und machte sich über das Fleisch her. Nach nicht einmal zwei Minuten war nichts mehr übrig. Er züngelte zufrieden und schmiegte sich an Vivana. »Nicht so fest. Du zerdrückst mich ja.« Sie strich ihm über die warmen Flanken. »Es tut mir leid, dass ich dich so lange allein gelassen habe. Das mache ich nie wieder, versprochen.«

Während sie das sagte, dachte ein Teil von ihr: Ich habe einen Lindwurm als Haustier. Ich schätze, es gibt nicht viele Leute, die das von sich behaupten können. Lieber Himmel!

»Was machen wir jetzt mit ihm?«, fragte Nedjo.

»Wir lassen ihn auf keinen Fall hier.«

»Aber du kannst ihn doch nicht zum Versteck mitnehmen.«

»Doch, kann ich.«

»Und was ist mit Godfrey?«

»Godfrey hat mir überhaupt nichts zu sagen.«

Nedjo schwieg hilflos.

»Nimm den Korb. Wir gehen«, sagte Vivana.

»Du entwickelst eine ungute Neigung, andere herumzukommandieren, weißt du das?«, murrte der Manusch, während er den Tragebehälter an sich nahm. »Früher warst du irgendwie netter.«

»Nette Menschen werden von Dämonen gefressen. Jetzt komm. Wir haben den anderen versprochen, nicht so lange fortzubleiben.«

Sie hob die Laterne auf und ging voraus. Dass Ruac die enge Kammer endlich verlassen durfte, genoss er sichtlich. Sein Bewegungsdrang war so groß, dass er ständig voraushuschte und sie ihn zurückrufen musste. In den breiteren Tunneln unter der Altstadt versuchte er mehrmals, seine Flügel zu spreizen. Offenbar konnte er es nicht abwarten, die ersten Flugversuche zu starten.

Etwa eine Stunde später erreichten sie die Katakomben und Kanäle unter dem Kessel. Als sie in den Gang einbogen, der zu Godfreys Versteck führte, sah Vivana zu ihrer Verwunderung in der Ferne Licht.

»Wieso ist denn das Tor offen?«

Nedjo blieb stehen. »Ich glaube, da stimmt was nicht. Riechst du das?«

Sie schnupperte. Der Geruch war schwach, aber unverkennbar: Pulverdampf.

Jähe Angst fuhr ihr in den Magen. Ruac neben ihr verfiel in Habachtstellung. Seine gesamte Körperhaltung signalisierte: Gefahr.

»Irgendwas ist da passiert«, murmelte Nedjo. »Lass mich vorausgehen und nachsehen.«

Doch ehe er den Tragekorb abstellen und sein Messer ziehen konnte, war Vivana bereits losgelaufen.

»Warte. Nicht!«

Sie hörte nicht auf ihn. Etwas Furchtbares war geschehen, sie konnte es spüren. Ruac schoss an ihr vorbei, den Gang entlang, ein schlangenförmiger Schatten, der mit der Dunkelheit verschmolz. Am Tor des Verstecks verharrte er und züngelte.

Das Portal war zerstört. Irgendeine unfassbare Gewalt hatte es zerfetzt und verbogene Metallteile über den Boden der Halle verstreut. Mit zusammengepressten Lippen stieg Vivana über die Trümmer und betrachtete das Bild der Verwüstung, das sich ihr bot.

Dünner Rauch erfüllte die Luft, hing wie Nebel zwischen Pfeilern und Maschinentürmen. Einschusslöcher klafften in den Messingverschalungen. Ruac schnüffelte an einem schwarzen Stofffetzen, der auf dem Boden lag. Eine Kutte. Vivana stieß sie mit dem Fuß an. Asche rieselte aus dem Kragen.