der Sarn überwältigt hatte. Vielleicht trauten sie der
vermeintlichen Schwäche des Kriegers doch nicht so ganz.
»Du enttäuschst mich, Sarn«, sagte der erste Krieger kopfschüttelnd. »Du enttäuschst mich wirklich sehr. Ich habe dich für einen meiner besten Männer gehalten. Und du hintergehst mich auf eine so schmähliche Weise.« Er trat einen Schritt zurück und machte gleichzeitig eine auffordernde Bewegung mit seinem Schwert.
Sarn gehorchte, wenn auch erst nach kurzem Zögern. Sein Blick wanderte zwischen den Gesichtern seiner ehemaligen Kameraden und Mike hin und her. In seinen Augen stand eine unendlich tiefe Enttäuschung geschrieben, aber er verzog keine Miene.
Nachdem er vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte, trat der Kommandant kopfschüttelnd zurück und wandte sich zu Mike um. »Du bist also der Junge, um dessentwillen Sarn und der gesamte Widerstand ein solches Risiko eingehen«, sagte er.
»Davon weiß ich nichts«, antwortete Mike – und taumelte im nächsten Moment zwei Schritte zurück. Sein Gesicht brannte so heftig, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Der Krieger hatte ihn ohne Vorwarnung geohrfeigt.
»Was fällt dir ein, das Wort an mich zu richten, ohne dass ich dich dazu aufgefordert habe!«, fauchte er. »Tu es noch einmal und ich lasse dir die Zunge herausschneiden!«
Mike hütete sich irgendetwas dazu zu sagen, sondern senkte hastig den Blick. Der Krieger starrte ihn noch einen Moment zornig an, dann fuhr er auf dem Absatz herum und deutete auf Sarn.
»Bindet ihn!«, befahl er. »Macht es gründlich und passt auf.
Sarn ist gefährlich, selbst mit gebundenen Händen. Und beeilt euch. Argos erwartet uns auf der Burg, noch ehe die Schlafenszeit beginnt!«
Mike wurde gepackt und grob herumgestoßen. Er war so müde, dass er im Gehen hätte einschlafen können.
Aber darauf nahmen die drei Männer natürlich keine Rücksicht.
Es musste wohl wirklich so gewesen sein, dass er im Gehen eingeschlafen war, denn das Nächste, was er bewusst wahrnahm, war, dass er heftig gegen den Rücken seines Vordermannes prallte und dann noch heftiger zurückstolperte und zu Boden fiel, als dieser herumfuhr und ihn ohrfeigte.
Halb benommen stürzte er zu Boden, blieb einen Moment liegen und rappelte sich dann hastig wieder hoch.
»Pass gefälligst auf, wo du hinläufst, du Tölpel!«, knurrte der Mann, den er angerempelt hatte, und versetzt ihm einen unsanften Knuff in die Seite. »Das nächste Mal kommst du nicht so glimpflich davon!«
Mike war klug genug, nichts zu sagen, aber er spuckte ein bisschen Blut aus. Ganz so glimpflich kam es ihm gar nicht vor...
»Lasst ihn in Ruhe«, mischte sich Sarn ein. »Ihr seht doch, dass der Junge vollkommen erschöpft ist. Wollt ihr ihn als Leiche bei Argos abliefern?«
Etwas klatschte. Mike sah nicht hin, aber er nahm an, dass man nun auch Sarn geschlagen hatte, und dieselbe Stimme, die auch ihn angefahren hatte, sagte in hämischem Ton: »Genau genommen sollen wir nur dich lebendig abliefern, Verräter. Ich weiß nur nicht, ob du dich darüber freuen solltest. Weiter jetzt!«
Mike wurde erneut grob vorwärts gestoßen. Nachdem sich das Dröhnen in seinem Kopf ein wenig gelegt hatte, begriff er, dass er wohl eine geraume Zeit mehr schlafend als wach hinter den Männern hergeschlurft sein musste, denn ihre Umgebung hatte sich stark verändert. Statt durch dichten Wald marschierten sie nun einen gewundenen, sanft ansteigenden Weg entlang, zu dessen Seiten sich große, offensichtlich gerade abgeerntete Felder erstreckten. Hier und da erhoben sich kleine, aus Fels und Korallenbruch erbaute Hütten und ungefähr eine halbe Meile vor ihnen endete der Pfad vor einer gut zehn Meter hohen, bunt bemalten Wand; der Stadtmauer Lemuras, der Hauptstadt und gleichzeitig aber aucheinzigen Stadt des unterirdischen Reiches. Über der Mauerkrone konnte Mike die Dächer der Häuser erkennen und weit darüber wiederum die Türme der schimmernden Burg, in denen Argos und die herrschende Kaste lebten. Er hatte kein sehr gutes Gefühl. Seine Erinnerungen waren noch immer blockiert, aber allein beim Klang des Namens Argos lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Und er empfand ein starkes Gefühl von Enttäuschung.
Sie passierten das Stadttor, ohne aufgehalten zu werden. Der Hauptmann hob nur kurz die Hand und winkte einer der beiden Wachen am Tor zu und sie durften passieren.
Offensichtlich waren sie erwartet worden.
Mike sah sich neugierig um, als sie die Stadt betraten. Lemura war nicht besonders groß, aber dafür umso einzigartiger. Die Häuser waren nach den Regeln einer fremdartigen Architektur erbaut und die Straßen waren schmal. Viele Türen waren mit kostbaren Schnitzereien verziert und hier und da sah er auch abblätterndes Gold oder gar Edelsteine, die in die Reliefarbeiten eingelassen waren. Aber er sah auch eine Menge Beschädigungen, geborstene Türen, gesplitterte Fensterscheiben und eingesunkene Dächer, die nie repariert worden waren. Lemura–jedenfalls der Teil, durch den sie gingen – machte den Eindruck von verblichener Pracht, und die Menschen, die ihnen entgegenkamen, passten dazu. Die meisten waren ärmlich gekleidet und wirkten ausgezehrt und krank und sie bewegten sich mit gesenkten Köpfen und kleinen, schleppenden Schritten, als trügen sie eine unsichtbare Last mit sich herum. Mike hatte das Gefühl sich durch eine Stadt voller Sklaven zu bewegen. Der Anblick der schimmernden, perlmuttbesetzten Türme über ihren Dächern wirkte wie der pure Hohn.
»Sieh dich ruhig um«, sagte Sarn, dem seine Blicke nicht entgangen waren. »So leben die Menschen in Lemura, damit die Herrscher ein möglichst angenehmes Leben führen können!«
Mike antwortete nicht, aber der Kommandant sagte: »Ich an deiner Stelle würde mir überlegen, was ich rede. Argos wird von solchen Sprüchen nicht begeistert sein.«
»Und?«, fragte Sarn. »Ihr tötet mich doch sowieso!«
»Das ist wahr«, antwortete der Kommandant. »Die Frage ist nur, ob schnell oder möglichst langsam und qualvoll. Also schweig jetzt lieber.«
Sarn lachte, folgte dem Rat seines ehemaligen Vorgesetzten aber trotzdem und schwieg, während sie weiter durch die schmalen Straßen in Richtung Schloss gingen.
Sie überquerten eine Art Marktplatz, der den Eindruck noch untermauerte, den Mike von dieser Stadt auf dem Meeresgrund hatte: Die wenigen Buden waren ärmlich und heruntergekommen und die feilgebotenen Waren luden nicht zum Kauf ein: verschlissene Stoffe, rostiges Metall und größtenteils fremdartiges Gemüse und Obst, das nicht besonders appetitlich aussah.
Nachdem sie den Marktplatz überquert hatten, bogen sie in eine weitere, noch schmalere Gasse ein. Zwei oder drei Männer mit gesenkten Häuptern und unansehnlichen grauen Mänteln kamen ihnen entgegen und in mehreren Türen lehnten Gestalten, die ihnen mit gelangweilten Blicken nachsahen.
Irgendetwas stimmte nicht. Mike hatte plötzlich ein intensives Gefühl von Gefahr. Er blieb stehen und sah sich alarmiert um.
Er schien nicht der Einzige zu sein, dessen Sinne Alarm schlugen. Auch die drei Krieger hatten angehalten und die Hände auf ihre Schwerter gesenkt. Der Hauptmann sah sich aufmerksam um. Aber es war zu spät.
Die drei Männer, die ihnen entgegenkamen, machten keine Anstalten, ihnen in der schmalen Gasse Platz zu machen, sondern schlugen im Gegenteil plötzlich ihre Mäntel zurück. Darunter kamen zerschrammte Rüstungen, blitzende Schwerter und Dolche zum Vorschein. Auch hinter ihnen polterten plötzlich schwere Schritte auf der Gasse und im selben Augenblick flogen zu beiden Seiten ein Dutzend Fenster auf und Männer mit Armbrüsten und Bogen erschienen darin.