»Warum auch?«, sagte Mike, in dem vergeblichen Bemühen, sie zu trösten. »Es war schließlich nur ein Märchen.«
»Aber alles war so deutlich!«, beharrte Serena. »Es heißt in der Legende, dass Lemura von einer Armee von Haifischen bewacht wird, den gefährlichsten Räubern der Meere. Und von Wesen, die eigens geschaffen wurden, um sie zu lenken.«
»Geschaffen?«, fragte Juan zweifelnd. »Soll das heißen, dein Volk war in der Lage, Lebewesen zu erschaffen?«
»Das spielt jetzt keine Rolle.« Trautman brachte ihn mit einer Geste zum Verstummen. »Was ist dieses Lemura, Serena?« »Der Stolz ihres Volkes«, sagte Tarras vom Steuerpult her. Offensichtlich war er doch nicht ganz so konzentriert auf seine Arbeit, wie er behauptete hatte, denn er schien jedes Wort gehört zu haben. »Und der ganz besondere Stolz ihres Vaters. Er hat es erbauen lassen. Ist es nicht witzig, dass uns ausgerechnet seine einzige Tochter den Schlüssel zu seinen Toren geliefert hat?«
»Ein Gefängnis«, sagte Serena.
»Ein Gefängnis?«, ächzte Mike. Er hatte keinen Grund, an Serenas Worten zu zweifeln, aber dieBehauptung erschien ihm im ersten Moment trotzdem unglaublich – schon angesichts derungeheuerlichen Größe der Unterwasserkuppel. Die NAUTILUS glitt immer noch darüber hinweg und es war kein Ende abzusehen.
Serena nickte. »Ja. Ein Ort, an den alle Verbrecher unseres Volkes verbannt wurden.«
»Ach, hat er dir das erzählt, dein Herr Vater?«, fragte Tarras böse. »Nun, nach allem, was ich über ihn gehört habe, passt das zu ihm.«
»Und nach dem, was wir mit Ihnen erlebt haben, scheint es die Wahrheit zu sein«, versetzte Ben giftig.Tarras grinste nur zur Antwort und betätigte einen Schalter.
Ein Zittern lief durch den Rumpf der NAUTILUS und das
Schiff wurde langsamer und begann gleichzeitig tiefer auf die
unterseeische Kuppel herabzusinken.
»Aber ein Gefängnis von so ungeheurer Größe«, murmelte Trautman kopfschüttelnd.
»Mein Vater war ein großherziger Mann«, antwortete Serena. »Wir halten nichts davon, Verbrecher für den Rest ihres Lebens in einen winzigen Raum einzusperren, in dem sie allmählich den Verstand verlieren. Das macht niemanden besser und es macht kein geschehenes Unheil wieder gut. Also ließ er diese Stadt bauen. Eine ganze Stadt auf dem Meeresgrund, die groß genug war, dass sie dort in Ruhe und Frieden ihr eigenes Leben leben konnten.«
Tarras lachte schrill. »Ja, das hat er dir erzählt, nicht wahr? Aber hast du es jemals selbst gesehen?«
»Nein«, sagte Serena.
»Nun«, erklärte Tarras, mit einem breiten Grinsen, »das wirst du. Vielleicht denkst du anschließend über die Großzügigkeit deines Vaters etwas anders.«
»Sie reden, als ob Sie ihn gekannt hätten«, sagte Mike.
»Kaum«, erwiderte Tarras. »Dieses Vergnügen hatte ich leider nicht. Und wenn, dann wäre es für einen von uns beiden ein sehr kurzer Spaß gewesen, das schwöre ich dir.«
»Wenn es nicht so ist, wie Serena sagt, wie war es dann?«, wollte Juan wissen.
»In einem Punkt hat sie die Wahrheit gesagt«, antwortete Tarras. Er machte eine wütende Geste auf die riesige unterseeischen Kuppel, die ganz langsam zu dem Schiff emporzusteigen schien. »Es war ihr Vater, der dieses Monstrum erbauen ließ. Aber nicht für gewöhnliche Verbrecher. Unsere Vorfahren waren keine Räuber und Diebe, wie sie euch glauben machen will.«
»Was dann?«
»Es waren Menschen, die nur ihre Freiheit wollten«, antwortete Argos an Tarras’ Stelle. Seine Stimmewar sehr leise und sehr traurig. »Ihr einziges Verbrechen bestand darin, die Herrschaft des Königs von is nicht anzuerkennen. Sie haben sich gegen seine Tyrannei aufgelehnt. Er ließ diesen Aufstand blutigniederschlagen, aber die, die überlebten, hörten nicht auf gegen ihn zu kämpfen. Also befahl er sie in Ketten zu legen und Lemura zu erbauen. Die meisten von ihnen starben während dieser Arbeit, denn sie dauerte fast ein Menschenleben lang. Und die, die sie überlebten, wurden in dem Gefängnis, das sie selbst errichtet hatten, ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen.«
»Das ist nicht wahr!«, protestierte Serena. »Mein Vater war kein Tyrann!«
»Warte nur noch einige Minuten und du wirst sehen, welches Paradies dein Vater für uns erschaffen hat«, sagte Tarras. Auch seine Stimme wurde bitter, aber es war ein harter Klang darin, den Argos nicht gehabt hatte. »Es war die Hölle und das ist es immer noch. Der König versprach ihnen, regelmäßigNahrungsmittel und Dinge des täglichen Bedarfs zu schicken, aber nach einer Weile hörten dieLieferungen auf. Von hunderttausend, die dort ausgesetzt wurden, überlebten am Ende weniger als fünfhundert! Er hat sie einfach ihrem Schicksal überlassen, dieser großherzige König.«
»Ihr tut ihm Unrecht«, sagte Mike. »Atlantis ging unter, als
Serena zwölf Jahre alt war. Deshalb wurden diese Leute
vergessen.«
»Das spielt keine Rolle«, antwortete Tarras zornig. »Dass sie nicht alle starben, grenzt an ein Wunder. Und das haben wir nicht dem König von Atlantis zu verdanken oder irgendwem, sondern nur dem Mut und der Zähigkeit jener tapferen Männer und Frauen.«
»Sie waren unsere Vorfahren«, ergänzte Argos. »Tausende von Jahren lang kämpften sie um das nackteÜberleben, bis sich wieder so etwas wie eine Zivilisation bildete. Wir – Tarras, Varan und die anderen, die auf dem Schiff waren – waren die ersten, denen es gelang, Lemura zu verlassen und zur Oberfläche hinaufzukommen. Das war vor zehn Jahren. Seither suchen wir nach einem Weg, um auch den Rest unseres Volkes wieder an die Erdoberfläche hinaufzuschaffen.«
»Habt ihr ihn gefunden?«, fragte Trautman. Argos schüttelte stumm den Kopf, während Tarras überhaupt nichts sagte, sondern sich wieder auf seine Instrumente konzentrierte.
»Sie werden euch niemals entkommen lassen«, sagte Serena. »Die Wächter wurden eigens geschaffen, um Lemura zu bewachen.«
»Uns haben sie auch nicht getötet«, sagte Tarras.
»Ja, weil ihr mich als Geisel hattet«, antwortete Serena wütend. »Aber lieber sterbe ich, ehe ich zusehe, wie–«
»Red nicht so einen Unsinn«, unterbrach sie Mike. Er wandte sich an Tarras. »Sie hat Recht«, sagte er. »Die Haie haben euch ziehen lassen, weil ihr uns hattet, aber ich glaube nicht, dass sie auch weiter noch auf unsere Leben Rücksicht nehmen werden, wenn ihr alle zu entkommen droht.«
»Das werden wir sehen. Schweig jetzt.«
Mike gehorchte. Schon weil Tarras’ scharfer Tonfall klarmachte, dass er ihm sowieso nicht mehr antworten würde.
Außerdem hatte die NAUTILUS die riesige Kuppel mittlerweile fast erreicht. Das Schiff näherte sich jetzt rasch dem künstlichen Meeresboden. Kurz bevor es ihn berühren konnte, begann der Sand plötzlich zu zittern wie unter einem Seebeben, dann bildete sich ein langer, schnurgerader Riss, der rasch zu einer Spalte und schließlich zu einem gewaltigen Kanal wuchs, groß genug, um fünf Schiffe von den Abmessungen der NAUTILUS aufzunehmen.