Sarn deutete auf den am nächsten liegenden See. Eine Anzahl Männer saß oder stand an seinem Ufer und sah einigen weiteren Gestalten zu, die im Wasser schwammen. Etliche der Männer am Ufer häuften große, nass glänzende Brocken in geflochtene Körbe, die wieder andere zum Ausgang trugen. Mike erinnerte sich an das, was Singh gerade erzählt hatte: Offensichtlich holten die Männer im Wasser die Erzknollen vom Grunde des Sees hinauf, damit sie von den anderen fortgeschafft werden konnten. Eine äußerst mühselige – und bestimmt gefährliche – Art, Erz zu gewinnen. Eisen musste hier unten kostbarer als Gold sein.
Mike sah sich nach den Wachen um, von denen Astaroth gesprochen hatte, konnte aber nur eine einsame Gestalt erkennen, die direkt neben dem Eingang auf einen Speer gestützt dastand und alle Mühe zu haben schien, nicht im Stehen einzuschlafen. Andererseits lagen in der weitläufigen Höhle mehr als genug Felsbrocken herum, um eine ganze Armee dazwischen zu verbergen.
Mike wandte sich mit einem fragenden Blick an Astaroth.Wo sind sie? Zwischen den Felsen versteckt?
In seinem Kopf ertönte ein lautloses Lachen.Keineswegs. Sie sind direkt vor deiner Nase. Sieh genau hin.
Mike tat, was der Kater verlangte, konnte aber zuerst nichts Auffälliges entdecken. Einige Männer trugen Körbe voller Erzknollen oder luden sie gerade voll, die weitaus meisten aber standen einfach nur herum und warteten, dass sie an die Reihe kamen.
Dann aber fiel ihm doch etwas auf. Die wenigen Männer, die die Körbe trugen, waren ausgemergelt und erschöpft und wirkten zum Umfallen müde oder auch krank, die anderen jedoch machten einen durchaus gesunden, kräftigen Eindruck. Und es waren eigentlich auch viel zu viele, wenn man bedachte, dass in dem runden See gerade mal zwei oder drei Gestalten schwammen. An keinem der anderen Wasserlöcher in der Höhle wurde gearbeitet.
Mike machte Singh mit einem Blick auf seine Entdeckung aufmerksam und der Inder nickte grimmig. »Argos’ Krieger«, flüsterte er. »Sie wissen, dass wir kommen.«
»Aber nicht, dass wir schon da sind«, fügte Sarn ebenso leise hinzu. »Wir haben eine gute Chance. Haltet euch bereit.«
Mike sagte nichts dazu, schon weil Sarn erneut heftig gestikulierte still zu sein. Aber er fühlte sich injeder Sekunde weniger wohl. Sarn und seine Männer waren in der Überzahl, und sie hatten den Vorteilder Überraschung auf ihrer Seite, aber ein Kampf würde wieder Tote und Verwundete bedeuten.
Da tauchte eine Gestalt aus dem See auf, ließ einen kopfgroßen Erzbrocken auf das Ufer fallen und zog sich mit einer erschöpften Bewegung aufs Trockene hoch. Als sie den Blick hob, erkannte Mike, dass es sich um niemand anderen als Ben handelte.
Um ein Haar hätte er laut aufgeschrien.
Ben bot einen erbarmungswürdigen Anblick. Er war immer kräftig gewesen, aber jetzt war er fast zum Skelett abgemagert. Seine Wangen waren eingefallen und die Augen lagen tief in den Höhlen und blickten leer. Seine Hände waren abgeschürft und auch sein Körper war mit zahllosen Schrammen und Kratzern übersät.
Trotzdem gönnte ihm der Mann am Ufer nur wenige Atemzüge, ehe er Ben mit einem derben Fußtritt wieder ins Wasser schleuderte. Noch während er unter heftigem Plantschen und Wellenschlägen unterging, tauchten zwei weitere, mit Erzknollen beladene Gestalten aus dem Wasser auf. Mike war nicht einmal mehr überrascht, als er erkannte, dass es sich um Chris und Juan handelte. Aber er war zutiefst entsetzt. Beide boten einen ebenso ausgezehrten Anblick wie Ben. Was hatten Argos’ Krieger vor? Wollten sie, dass die drei Jungen sich zu Tode arbeiteten?
Sarn schien zu spüren, wie es in Mike aussah, denn er machte eine besänftigende Geste. Seine Krieger waren bereits dabei, sich zwischen den Felsen zu verteilen, um in eine vorteilhafte Angriffsposition zu kommen. Mike war nicht wohl bei dem Gedanken, dass hier gleich ein erbitterter Kampf auf Leben und Tod losbrechen würde. Aber sie mussten Chris und die beiden anderen rausholen. So wie seine drei Freunde aussahen, war er nicht einmal sicher, dass sie die nächste Stunde überleben würden.
Es kam nicht zu dem Angriff; wenigstens nicht sofort. Sarns Männer schlichen geduckt und von Deckung zu Deckung huschend weiter, doch gerade, als der Krieger nach seinem Schwert griff und das vereinbarte Zeichen geben wollte, begann der Wasserspiegel des Sees zu zittern und nur eine Sekunde später wankte der Boden unter ihren Füßen.
Und das war erst der Anfang.
Noch bevor Mike überhaupt begriff, was geschah, begann es Steine zu regnen. Die gesamte riesige Höhle begann zu schwanken und sich zu bewegen und von der Decke regneten Felsbrocken und Steine, die zu Boden krachten oder mit einem gewaltigen Aufspritzen im Wasser verschwanden. Zwei, drei der Männer am Ufer wurden getroffen und stürzten zu Boden und auch der Wächter am Eingang verschwand unter einer gewaltigen Staub- und Trümmerwolke.
»Jetzt!«Sarn sprang in die Höhe und riss gleichzeitig sein Schwert aus dem Gürtel.»Greift an!«
Auch seine Leute hatten sich mit hastigen Sprüngen vor den niederregnenden Felsbrocken in Sicherheit gebracht, gehorchten seinem Befehl aber trotzdem sofort. Ohne zu zögern stürzten sie sich auf die als Sklaven verkleideten Krieger. Einige von denen versuchten zwar noch, ihre Waffen unter den Kleidern hervorzuziehen, aber sie hatten keine Chance. Der Kampf war nur kurz, aber sehr hart. Zwei von Sarns Männern und fünf der verkleideten Wachen lagen reglos am Boden, als alles vorbei war. Die Höhle bebte noch immer und fallweise regneten auch noch Steine von der Decke, aber das Schlimmste war vorüber.
Mike ignorierte die Gefahr, sprang hinter seiner Deckung hervor und war mit zwei, drei gewaltigen Sätzen am Ufer des Wasserloches. Zu seiner Erleichterung schwammen Ben, Juan und Chris noch immer im Wasser herum; unverletzt, aber vollkommen erschöpft. Mike streckte blitzschnell die Hände nach Juan aus, der ihm am nächsten war, packte ihn und riss ihn ohne große Anstrengung ans Ufer. Dann angelte er nach Ben, um ihn auf gleiche Weise zu retten.
In diesem Moment begann der Boden wieder heftig zu zittern. Die gesamte Höhle schien zu stöhnen wieein riesiges, sonderbares Tier. Überall rings um ihn herum stürzten Felsbrocken und Steine zu Boden. Männer schrien in Schmerz und Panik auf und auch Mike fühlte einen harten Schlag gegen die Schulter und wäre um ein Haar gestürzt.
Auch in den See schlugen die tödlichen Geschosse ein. Rings um Ben und Chris spritzte das Wasser in meterhohen Fontänen auf. Und als wäre das alles nicht genug, gewahrte Mike plötzlich etwas, was ihm schier das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Zwischen Ben und Chris erschien eine riesige, dreieckige Flosse.
Ein Hai!
Mike blinzelte. Eine Sekunde lang glaubte er einfach seinen Augen nicht trauen zu können. Aber es war so: Zu der ersten Flosse gesellte sich eine zweite, dann eine dritte. In dem unterirdischen See waren Haie aufgetaucht!
Auch Ben und Chris mussten die Gefahr bemerkt haben, denn sie schwammen im wahrsten Sinne des Wortes um ihr Leben. Immer mehr und mehr Steine ließen das Wasser rings um sie herum aufspritzen. Es grenzte an ein Wunder, dass bisher keiner von ihnen getroffen worden war. Dass auch Mike selbst sich in derselben Gefahr befand, kam ihm in diesem Moment nicht einmal in den Sinn.
Er beugte sich vor, so weit er es wagte, bekam irgendwie Bens Handgelenk zu fassen und riss ihn regelrecht aus dem Wasser. Nur eine halbe Sekunde später durchschnitt eine dreieckige Haiflosse genau dort die Wasseroberfläche, wo Ben gerade noch gewesen war. Nun blieb nur noch Chris. Auch er schwamm mit kräftigen Zügen auf das rettende Ufer zu und Mike beugte sich noch weiter vor, um den Benjamin der NAUTILUS-Besatzung zu erreichen.