Beinahe hätte er es sogar geschafft.
Seine ausgestreckte Hand war nur noch Zentimeter von Chris’ Fingerspitzen entfernt, als etwas wie ein furchtbarer Faustschlag seinen Rücken traf. Mike schrie auf, kippte nach vorne und stürzte halb besinnungslos ins Wasser.
Sekundenlang kämpfte er mit aller Macht darum, nicht gänzlich das Bewusstsein zu verlieren, was sein sicheres Todesurteil gewesen wäre. Er wurde herumgewirbelt und sank immer tiefer ins Wasser. Etwas Riesiges, Dunkles streifte seine Schulter und wirbelte ihn noch mehr herum, schubste ihn aber gleichzeitig auch wieder in die Höhe, sodass sein Kopf die Wasseroberfläche durchbrach. Instinktiv atmete er ein, machte ein paar hastige Schwimmbewegungen und sah sich um. Er war weiter vom Ufer entfernt, als er angenommen hatte. Rings um ihn herum herrschte das nackte Chaos. Die Höhle schwankte. Von der Decke regneten noch immer Steine. Und mittlerweile pflügten fünf oder sechs große, dreieckige Haifischflossen durch das Wasser. Mike verstand nicht, warum die Tiere Chris und ihn bisher noch nicht angegriffen hatten.
Sein Rücken war noch immer taub vor Schmerz und die Haifische kamen immer näher. Trotzdem warf er sich herum, schwamm mit heftigen Zügen auf Chris zu und versuchte ihn zu packen.
Es gelang ihm nicht. Chris war sichtbar am Ende seiner Kräfte, aber statt seine Hilfe anzunehmen, wich er ihm aus und schlug sogar nach ihm.
»Bist du verrückt?«, brüllte Mike – jedenfalls versuchte er es, schluckte aber so viel Wasser dabei, dass die Hälfte des Satzes in einem qualvollen Husten unterging. Statt noch mehr Zeit zu verschwenden, packte er Chris, wirbelte ihn herum und legte ihm von hinten den Arm um den Hals. Wenn es sein musste, würde er Chris eben mit Gewalt zwingen, sich retten zu lassen. Falls sie beide die nächsten zehn oder zwanzig Sekunden überlebten, hieß das ...
Alles ging viel zu schnell, als dass Mike auch nur begriff, was wirklich geschah. Jemand – etwas – packte ihn und Chris und zerrte sie mit brutaler Kraft in die Tiefe. Im selben Moment begann das Wasser ringsum unter den Einschlägen der ersten Steine regelrecht zu kochen. Mike spürte, wie Chris und er getroffen wurden. Der Schmerz war schlimm, aber schlimmer war, dass die Schläge ihm die Luft aus den Lungen trieben. Alles begann sich um ihn zu drehen und der Druck auf seine Brust wurde schier unerträglich. Chris, den er noch immer umklammert hielt, hatte aufgehört zu zappeln und sich zu wehren, und es ging noch immer weiter und schneller in die Tiefe. In ein paar Sekunden, das wusste er, würde er endgültig das Bewusstsein verlieren.
Sein Kopf knallte gegen einen Stein. Für eine Sekunde sah er nur noch bunte Sterne und ihm wurde, schwarz vor den Augen.
Und dann, ganz plötzlich, wurde es wieder hell um ihn. Mike konnte wieder atmen. Gierig sog er die Luft ein, spürte nur noch vage, wie er aus dem Wasser und mehr als unsanft zu Boden geworfen wurde, und ließ endlich los.
Hustend öffnete er die Augen. Er spürte, wie seine Gedanken
langsam in einen sich immer schneller drehenden Wirbel hineingezogen wurden, und vielleicht war er sogar schon ohnmächtig und halluzinierte, denn das letzte Bild, das er sah, war so grässlich, dass es nur aus einem Fiebertraum stammen konnte:
Die Wesen, die ihn und Chris gerettet hatten, waren keine Menschen, sondern –
Mike verlor das Bewusstsein.
Um ihn herum war es hell, als er erwachte. Er lag auf etwas Hartem, das wie tausend spitze Nadeln in seinen Rücken stach, und es war erbärmlich kalt. Das war das Erste, was ihm bewusst wurde. Das Zweite war die Erinnerung an eine Grauen erregende Gestalt mit furchtbaren Händen, die sich über ihn beugte, und sie war so intensiv, dass Mike sich mit einem Schrei aufrichtete und wild umsah. Sein Herz begann schlagartig zu hämmern.
Chris saß angstvoll zusammengekauert ein paar Meter neben ihm und starrte ihn aus großen Augen an, aber von dem Ungeheuer war keine Spur zu sehen falls es überhaupt je existiert hatte und nicht nur eine Fieberfantasie gewesen war.
Mike sah sich schaudernd ein zweites Mal um. Sie befanden sich am Ufer eines kreisrunden Sees von etwa dreißig Metern Durchmesser. Der Boden bestand aus feinem Sand und scharfkantigen Steinen – das war es, was so schmerzhaft in seinen Rücken gestochen hatte – und stieg in einiger Entfernung zu einer Schutthalde an, die fast bis zu der niedrigen Höhlendecke hinaufreichte.
Erst dieser Anblick machte Mike klar, dass sie sich nicht mehr in der Höhle befanden, in die Sarn sie gebracht hatte.
Er drehte sich wieder herum und Chris fuhr erschrocken zusammen und rutschte noch einen Meter weiter von ihm fort. In seinen Augen flackerte eine Angst, die Mike nur zu gut kannte.
»Tut mir nichts, Herr«, sagte Chris. »Es war nicht meine Schuld.«
»Ich weiß zwar nicht genau, was du meinst, aber du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, antwortete Mike. Er lächelte, sah aber sofort, dass er damit das genaue Gegenteil dessen zu erreichen schien, was er beabsichtigte: Die Angst in Chris’ Augen verstärkte sich noch.
»Du erinnerst dich nicht an mich, wie?«, fragte er.
»Erinnern?« Chris blickte ihn vollkommen verständnislos an und Mike stellte keine weitere Frage. Stattdessen stand er auf und begann die Geröllhalde emporzuklettern; eine Aufgabe, die sich als weitaus einfacher erwies, als er befürchtet hatte. Nach weniger als zwei Minuten hatte er den Gipfel des kleinen Bergs aus Trümmern und Geröll erreicht – und riss ungläubig die Augen auf, als er sah, was auf der anderen Seite lag.
Er hatte eine weitere Höhle erwartet und das war es auch, aber sie war gigantisch. Unter der Decke, die sich unmittelbar über Mike zu einer gewaltigen Höhle aufschwang, erstreckte sich eine sanft gewellte Ebene, die sich Kilometer um Kilometer dahinzog. Das jenseitige Ende dieses unterirdischen Landes war so weit entfernt, dass es bloß als Schatten zu erkennen war. Eine Art trockenes Seegras wuchs in großen Büscheln auf dem Boden und weiter entfernt konnte Mike einen grünen Schatten erkennen, der ganz gut ein Wald sein konnte.
»Was ... was ist das?«, flüsterte Mike erschüttert.
Er hatte gar nicht gemerkt, dass Chris ihm gefolgt war, aber er sagte unmittelbar neben ihm: »Das verbotene Land. Es gibt Tiere hier und gefährliche Pflanzen. Ihr solltet nicht dort hinuntergehen, Herr.«
»Vergiss denHerrn«,sagte Mike automatisch. Dann fügte er in verwirrtem Ton hinzu: »Woher weißt du das?«
»Ich war einmal dort«, antwortete Chris. Er sah Mike angstvoll an. »Ich weiß, dass wir es nicht dürfen, aber Ben, Juan und ich sind ein paar Mal von den Wächtern hergebracht worden. Niemand sonst kommt hierher. Wir konnten ... ausruhen. Werdet Ihr uns verraten?«
»Nein«, antwortete Mike lächelnd. »DieWächter?«
»Die Wesen, die uns gerettet haben.« Chris deutete auf den See hinab. »Sie greifen jeden an. Nur Ben, Juan und mich nicht. Im Gegenteil. Sie sind unsere Freunde.«
Und endlich erinnerte Mike sich wirklich. Das Monster, das er gesehen hatte, war keine Halluzination gewesen. Er war Geschöpfen wie diesem schon mehrmals begegnet – einmal an Bord der NAUTILUS und später am Ufer der kleinen Insel, auf der Argos und die beiden anderen Atlanter sie überwältigt hatten. Die bizarren Kreaturen, die wie unheimliche Kreuzungen zwischen Menschen und Haifischen aussahen, hatten noch nie jemandem etwas zu Leide getan, aber Argos und die anderen Atlanter fürchteten sie wie den Teufel. Etwas an diesem Gedanken erschien ihm ungeheuer wichtig, aber er bekam ihn nicht richtig zu fassen.